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Zum Rollenbild der Serienärzte

28.08.2020 Seite 16
RAE Ausgabe 9/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2020

Seite 16

  • Zwischen Realität und Fiktion Der Operationssaal ist für die meisten Patientinnen und Patienten ein unsicherheitsbehafteter Ort, der vor allem mit Kontrollverlust und Abhängigkeitsgefühlen assoziiert ist. Nur in Arztserien lässt sich ein vermeintlicher Blick hinter die Kulissen erhaschen. Dass Serienmacher und Regie dabei nicht auf realitätsgetreue Darstellungen setzen, sondern auf Spannung und Drama, ist vielen nicht klar. Das weckt Ängste, die Ärztinnen und Ärzte in der Realität dann in empathischer Kommunikation entkräften müssen. In deutschen Serien werden Ärztinnen und Ärzte seit jeher als „Helden in Weiß“ dargestellt, die nur für ihren Beruf leben. Das deckt sich nicht mit dem berechtigten Anliegen von Ärztinnen und Ärzten einer ausgeglichenen Work-Life-Balance. © Juice Images / Fotolia
  • © ZDF/Thomas Waldhelm
Immer häufiger sehen sich Ärztinnen und Ärzte mit den hohen Erwartungen ihrer Patienten konfrontiert. Studien zeigen, dass die fiktiven Ereignisse aus Arztserien Zuschauer mehr beeinflussen, als es diesen bewusst ist. So werden zum Teil realitätsferne Therapieerwartungen geweckt und tradierte Rollenbilder zwischen Ärzten und Patienten festgeschrieben.

von Vassiliki Latrovali
 

Schauspieler Klausjürgen Wussow verkörperte in den achtziger Jahren den wohl berühmtesten deutschen Fernseharzt. Als Professor Klaus Brinkmann setzte er sich in der Schwarzwaldklinik nicht nur für die medizinischen Belange seiner Patientinnen und Patienten ein. In seinen Memoiren berichtete Wussow über zahlreiche Briefe, Anrufe und Anmerkungen von Fans, die ihm mitteilten: „Wären doch nur alle Ärzte wie Professor Brinkmann.“ Denn der überaus freundliche Chefarzt der Schwarzwaldklinik im Glottertal schenkte seinen Patienten in der populären Krankenhausserie viel Zuwendung. Zwischendrin wurde noch erfolgreich operiert, und das Privatleben kam auch nicht zu kurz.

Etwas realistischer, zumindest was die Dynamik und die Schwierigkeiten des Klinikalltages angeht, kommen die US-amerikanischen Pendants daher. Dr. House, Grey’s Anatomy oder auch Emergency Room gelten als die erfolgreichsten Arztserien der Welt. In den Vereinigten Staaten nutzt man Arztserien schon seit Langem als Präventions- und Informationswerkzeuge für die Bevölkerung. Doch auch hier gilt: je spannender, desto besser. Bei einigen Zuschauern schürt dies Ängste, etwa wenn regelmäßig lebensbedrohliche Komplikationen bei Routineoperationen auftreten. 

Die Phantasie der Zuschauer

„Die im Fernsehen gezeigten Operationen verlaufen nahezu immer dramatisch. Das steigert die Einschaltquote, hat jedoch mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun“, sagt Privatdozent Dr. Dr. sc. hum. Kai Witzel. Der Kommunikationswissenschaftler veröffentlichte 2008 gemeinsam mit seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Claudia Kaminski, dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Horst J. Koch und dem ehemaligen Programmchef der ARD, Günter Struve, die Ergebnisse einer prospektiven Studie zum „Einfluss des Fernsehkonsums auf die Angst vor einer Operation“. Dazu wurden 95 Frauen und 67 Männer, die eine Leistenhernien- oder Gallenblasenoperation planten, interviewt. Mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens wurden ihre Ängste, ihr Fernsehkonsum im Allgemeinen und der von Arztserien im Speziellen ermittelt. Rund die Hälfte der Befragten berichtete über deutliche präoperative Ängste, die mit dem Konsum von Arztserien signifikant positiv assoziiert waren. Mit zunehmendem Alter nahm die Angst vor der Operation jedoch ab. Allerdings fühlten sich Patienten, die viele Arztserien konsumierten, im Krankenhaus besser umsorgt. Aber es scheint, als würden Realität und Fiktion hierbei oft verschmelzen: „Unsere Studie zeigt, dass Arztserien-Fans Schwierigkeiten haben, diesen Unterschied für sich nachzuvollziehen“, meint Witzel, der selbst Chirurg ist. Zur Erklärung verweist er auf die sogenannte Kultivierungshypothese (siehe Kasten S. 19). Auf die Frage „Glauben Sie, dass das, was in Arztserien passiert, Wirklichkeit ist?“ antworten Witzel zufolge nahezu alle Erwachsenen mit einem klaren Nein. „Uns ist nicht bewusst, wie sehr Filme und Serien unser Denken und Handeln beeinflussen können, oder anders gesagt, keiner gibt gerne zu, dass ihn das Fernsehen so sehr prägt.“

Oft gehe es in den Serien um lebensbedrohliche Komplikationen und schwierige medizinethische Entscheidungen, die die behandelnden Ärztinnen und Ärzte treffen müssen. „Der normale Klinik- oder Praxisalltag wäre wahrscheinlich so langweilig für die Zuschauer, dass sie abschalten würden“, so Witzel. Es gehe daher nicht ohne Dramatisierung und persönliche Schicksale. „Als Programmchef wusste Günter Struve ganz genau, was die Zuschauer sehen möchten. Er erzählte mir beispielsweise, dass die Serie In aller Freundschaft Allgemeinmediziner und eine OP-Schwester als medizinische Berater hat – die Betonung liegt hier auf Berater“, sagt Witzel. Die entscheidende Instanz bei der Frage, was zeige man und was nicht, sei immer die Regie. „Was den Zuschauern realistisch erscheint, ist das Maß aller Dinge bei Serien und Filmen.“

Der geheimnisvolle OP-Saal

Wie die Vorlieben der Zuschauer die Serienmacher beeinflussen, zeige das Beispiel des Filmblutes: „Es ist immer hellrot, schön auffällig. Dabei wissen die meisten Menschen ja, nach einer Schnittverletzung bleibt es nicht so hell, erst recht nicht nach einigen Stunden. Aber genau das wollen die Zuschauer dann eben sehen“, erklärt Witzel. Überhaupt betrachte die Gesellschaft viele medizinische Themen und Situationen aus einer verzerrten Perspektive. „Nehmen wir den OP-Saal. Der wirkt auf Außenstehende immer unglaublich geheimnisvoll. Denn nur Ärztinnen, Ärzte, Pfleger und Schwestern wissen, was dort geschieht. Ich nenne das immer die Black Box der Medizin“, sagt Witzel. Und in ein Mysterium lasse sich schnell etwas hineininterpretieren, was nicht der Realität entspreche. „Damit die Zuschauer sich mit den fiktiven Patienten identifizieren können, nimmt man gerne die am häufigsten auftretenden Symptome wie zum Beispiel Kopfschmerzen oder Übelkeit“, so Witzel. Daraus kreiere man dann eine gefährlich verlaufende Krankheit. Einige Patientinnen und Patienten, so der Chirurg, können nicht nachvollziehen, dass es sich lediglich um erfundene Szenarien handelt und ziehen mitunter trügerische Parallelen zu ihren eigenen Erkrankungen.

Besonders in der heutigen Medienlandschaft hat es laut Witzel den Anschein, als würden Realität und Fiktion ineinander übergehen. „In den vergangenen 12 Jahren seit der Studie hat sich einiges verändert. Durch die technisch-medialen Entwicklungen und die Möglichkeiten der Virtuellen und Erweiterten Realität (siehe Kasten S. 19) geht es mittlerweile nicht nur darum, fiktive Inhalte als solche zu erkennen, sondern auch, die hohe Ansammlung an Fake News richtig einzuordnen. Das ist heutzutage selbst für Experten schwierig“, so Witzel.

In die Kategorie der Fälschungen fallen beispielsweise auch einige Serien der Formate Educational-Entertainment und Infotainment. Hierbei werden wichtige und wahre Informationen mit dem Faktor Unterhaltung vermischt. Tatsächlich ein Konzept, dass bei den Zuschauern gut anzukommen scheint. „Es sieht aus wie der Blick hinter die Kulissen. Dabei handelt es sich bei sehr vielen Sendungen dieser Formate um nichts weiter als aufgehübschtes Reality-TV. Zwar sprechen ab und zu auch Mediziner und Rettungssanitäter in die Kamera, aber mehr Wahrheit ist auch dort nicht dran“, sagt Witzel. 
Patientinnen und Patienten müssten verstehen, dass es realitätsfern sei, wenn jeden Tag eine neue seltsame Erkrankung zu behandeln ist. Das sei auch kein Indikator für gute ärztliche Leistung. „Ich sammele nur Erfahrungen in meinem Fachgebiet, wenn ich das 

Gleiche wieder und wieder mache. Wie sollte man sich sonst verbessern. Das mag langweilig klingen, aber so sieht Professionalität aus“, sagt Witzel.

Dass sich jüngere Menschen allerdings lieber Vorbilder aus den USA nehmen, sei nachvollziehbar. „In den deutschen Serien werden zumeist archetypische Rollenbilder kreiert. Was dort vermittelt wird, ist meist überholtes männliches Imponiergehabe“, sagt der Chirurg und führt weiter aus: „Dieses Weltbild aus den siebziger und achtziger Jahren, das auch heutige Serien aufgreifen, zeigt nicht nur ein falsches Rollenbild von Frauen und Männern oder Ärzten und Pflegepersonal, sondern auch eine nicht zutreffende Rollenverteilung innerhalb der Ärzteschaft.“ Es sei ganz und gar nicht üblich, dass Anästhesisten sich ein Ok für ihre Arbeit beim Chefarzt einholen. „Die wissen alle ganz genau, was zu tun ist. Jeder hat seine Aufgaben“, erklärt Witzel. Und: „Wir haben aktuell viel mehr Medizinstudentinnen, das ist natürlich toll, aber ich finde eine gute Durchmischung macht den medizinischen Alltag noch effizienter – das gilt für alle medizinischen Berufe.“

Einmal Arzt, immer Arzt?

Brinkmann und Co. seien aber nicht nur wegen ihrer überholten Rollenbilder nicht mehr zeitgemäß. „Egal wo man den Professor der Schwarzwaldklinik antraf, er war ja stets Mediziner. Das erweckt den Anschein, dass Ärztinnen und Ärzte kein wirkliches Privatleben haben und wenn, dann findet es innerhalb der Praxis oder Klinik statt“, ergänzt Witzel. Auch neuere Arztserien wie Der Landarzt und Der Bergdoktor bedienten sich dieser „Helden-in-Weiß-Taktik“. Für Witzel liegt vor allem darin der Einfluss der Serienärzte. „Das Heldenbild ist natürlich schmeichelnd und an sich ja auch nicht negativ behaftet. Aber es kreiert hohe Ansprüche, die ein Mensch eben nicht immer erfüllen kann oder muss,“ meint der Chirurg.

Laut Witzel gab es bislang nur einen Serienarzt, der mit dem Heldentum brach: „Dr. Gregory House aus der gleichnamigen Serie ist eine Ausnahme in der Serienwelt. Er war der gescheiterte Zyniker, der mit der Versuch-und-Irrtums-Methode (engl.: trial and error method) zur Diagnose kam“, erklärt Witzel. Er ist sich sicher, dass die meisten Patientinnen und Patienten ungern zu solch einem Arzt gehen würden. Dennoch sei gerade Dr. House ein gutes Beispiel für die sinnstiftenden Aspekte von Arztserien. Professor Dr. Jürgen Schäfer, Facharzt für Kardiologie und Dozent an der Marburger Universitätsklinik, der die kuriosen Befunde von Dr. House in seinen Vorlesungen auf ihre Richtigkeit überprüfte, machte vor einigen Jahren Schlagzeilen: „Der Fall mit der Kobaltvergiftung durch falsches Material im künstlichen Hüftgelenk war großartig. Mein Kollege Schäfer erinnerte sich, nachdem ihm sein Patient seltsame Symptome schilderte, an einen Fall aus einer Dr. House-Folge und lag damit vollkommen richtig.“ 

Zurück in die Realität

Das Paradies, in dem viele Serienärzte agieren, ohne Zwänge, ohne Zeitdruck und ohne Bürokratie, sei nicht dafür geschaffen, mit der Realität mitzuhalten. „Die reale Gesellschaft unterscheidet sich ja auch von der fiktiven. Patienten neigen dazu, die eigenen Beschwerden als absoluten ‚Notfall‘ einzuschätzen, der umgehend behandelt werden muss. Oftmals wird kaum Rücksicht auf Mitmenschen genommen, die tatsächliche Notfälle sind, auch Wartezeiten werden kaum toleriert“, sagt Witzel. Gewalt gegen medizinisches Personal sei ein aktuelles und ernstes Problem. Ärzteserien können laut Witzel zu medialen Sozialisationseffekten führen, die das beobachtete Anspruchsdenken fördern.
Entscheidend sei daher nicht nur das Behandlungsergebnis, sondern auch eine angepasste individualisierte Kommunikation. Für den Chirurgen ist die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten ein lohnendes Return on Investment. Alle Patienten hole man damit aber auch nicht ab: „Barbara Wussow, Tochter von Klausjürgen Wussow, erzählte mir, dass ihr Vater zahlreiche Briefe von Patientinnen und Patienten erhielt, die ihn nach seiner medizinischen Meinung zu diversen Befunden und Diagnosen befragten. Da kann man dann nur schmunzeln.“
 

Kultivierungshypothese

Die Kultivierungshypothese (engl.: cultivation hypothesis) geht auf die Vielseherforschung des US-amerikanischen Medienwissenschaftlers George Gerbner zurück. Er beschäftigte sich in den Siebziger Jahren mit der Rolle des Fernsehens als Vermittler unseres alltäglichen Weltbildes. Gerbner war der Meinung, dass gerade bei Vielsehern die
Vorstellungen darüber, wie die Realität beschaffen ist, durch die Art der dargestellten Realität im Fernsehen beeinflusst werden.

Virtuelle und Erweiterte Realität

Virtuelle Realität (VR; engl.: virtual reality) bezeichnet ein digitales, am Computer geschaffenes Abbild der Realität.
Erweiterte Realität (AR; engl.: augmented reality) beschreibt das Zusammenspiel von digitalem und analogem Leben.