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26.04.2020 Seite 12
RAE Ausgabe 5/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2020

Seite 12

In der ersten Aprilhälfte 2020 hält das Coronavirus SARS-CoV-2 das Leben der Menschen im Rheinland in eisernem Griff. Der Staat hat das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben mittels drastischer Einschnitte heruntergefahren, um eine explosionsartige Verbreitung des Virus zu verhindern. Erst bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe des Rheinischen Ärzteblattes gibt es erstmals vorsichtige Lockerungen des Wirtschaftslebens. In vorderster Front bei der Pandemiebekämpfung stehen die Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit den anderen Gesundheitsberufen.

Noch denkt man bei SARS-CoV-2 an China, in Wirklichkeit ist das neuartige Coronavirus bereits im Rheinland angekommen. Nur wissen das die Teilnehmer der traditionellen Kappensitzung in der Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg am 15. Februar, dem Samstag vor Karneval, noch nicht. Die Stimmung muss gut gewesen sein, so erinnert sich Sitzungspräsident Wilfried Gossen laut Westdeutscher Zeitung vom 28. Februar.

Nur zwei Monate später wirkt Karneval 2020 wie graue Vorzeit, weil sich im ganzen Land und weltweit so viel so radikal verändert hat. Gangelt gilt als Hotspot einer Pandemie historischen Ausmaßes. In ganz Deutschland, weiten Teilen Europas und der Welt haben die Staaten das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben mittels drastischer Einschnitte heruntergefahren. Erstmals verständigen sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder am 15. April auf vorsichtige Erleichterungen für die Wirtschaft. Doch lebt das Land weiter im Lockdown. Es bleibt kaum etwas anderes übrig, als die Unsicherheit über die weitere Entwicklung auszuhalten und, soweit es die Umstände zulassen, eine gewisse Normalität im Alltag aufrechtzuerhalten. 

Das Dilemma

Angesichts der zunächst explosionsartigen Verbreitung des Virus erscheint der Lockdown in Deutschland unvermeidlich. Eine Überforderung der Intensiv- und Beatmungskapazitäten der Krankenhäuser muss auf jeden Fall vermieden werden, darüber herrscht Einigkeit. Die apokalyptischen Bilder aus Bergamo, Madrid und New York mahnen. In seiner Ad-hoc-Stellungnahme vom 7. April beschreibt der Deutsche Ethikrat das grundlegende Dilemma (www.ethikrat.org): „Ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem muss gesichert und zugleich müssen schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft durch die Maßnahmen abgewendet oder gemildert werden. Garantiert bleiben muss ferner die Stabilität des Gesellschaftssystems. Hinzu kommt, dass noch unsicher ist, wann Impfstoffe, Medikamente, Therapien und Testverfahren zur Verfügung stehen werden, die eine nachhaltige Lösung ermöglichen.“

„Das Land ist wie ein Tanker, der ganz, ganz langsam wendet“, zitiert die Deutsche Presse-Agentur am 3. April Kanzleramtsminister Professor Dr. Helge Braun, einen Anästhesisten, „deswegen müssen wir noch eine Weile abwarten.“ Er weiß: Wie erfolgreich das Wendemanöver zur Eindämmung der Pandemie mit dem Konzept der räumlichen Distanzierung ist, ob der exponentielle Anstieg der Kurve mit der Zahl neu infizierter Menschen abgeflacht werden kann, lässt sich erst mit einer Zeitverzögerung von rund zwei Wochen an den Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) ablesen.

Mangel an Schutzmaterial

Mitte April ist die Versorgung der Ärztinnen und Ärzte sowie der anderen Gesundheitsberufe mit FFP2- und FFP3-Atemschutzmasken und mit Schutzanzügen trotz gewisser Fortschritte noch immer sehr schwierig. Der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, zeigt sich in einer Videobotschaft an die Kollegenschaft am 4. April (www.aekno.de und YouTube) besorgt über die vierstellige Zahl von nachgewiesenen Covid-19-Infektionen bei Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften allein in den Krankenhäusern. Gleichzeitig macht Henke Mut: „Ich bin sehr sicher, dass es niemanden mehr gibt, der dieses Thema nicht mit höchster Priorität behandelt: der Bund, die Länder, Kommunen, die ärztliche Selbstverwaltung − alle arbeiten fieberhaft an der Beschaffung von Material.“

In seiner Ansprache setzt sich der Kammerpräsident auch dafür ein, dass bürokratische Pflichten von Ärztinnen und Ärzten sofort ausgesetzt werden. Er fordert Krankenhausverwaltungen und Krankenkassen auf: „Bitte entscheiden Sie, dass in den Häusern, die sich um die Versorgung von Covid-19-Patienten kümmern, jetzt keine Zeit und keine Energie mehr darauf verwendet werden muss, sich auf Prüfungen der Medizinischen Dienste vorzubereiten.“ An Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann schreibt Henke, dass die Fortbildungs-Nachweispflicht für Fachärzte ein Jahr lang ausgesetzt werden soll.  Honorarabzüge für niedergelassene Fachärzte dürfe es nicht geben angesichts der Krise, „die ja ohnehin bereits zu schmerzlichen Einnahmeverlusten in den Praxen führt“, so der Präsident in seiner Videobotschaft (aktuelle Informationen der Gesundheitsministerien unter www.bundesgesundheitsministerium.de/coronavirus und www.mags.nrw/coronavirus).

Ärztliche Selbstverwaltung

Wegen der Corona-Krise Pandemie kann die Kammerversammlung der Ärztekammer Nordrhein nicht zur für den 21. März 2020 geplanten Präsenzsitzung zusammentreten. Kammerpräsident Rudolf Henke wendet sich daher in seiner ersten Videobotschaft an die Mitglieder der Kammerversammlung (www.aekno.de und YouTube) und erstattet einen schriftlichen Bericht zur aktuellen Lage. Wichtige Regelwerke beschließt die Kammerversammlung im schriftlichen Umlaufverfahren (siehe auch Seiten 18 ff.). Der Vorstand der Ärztekammer Nordrhein tagt am 1. April per Videokonferenz. Für eine halbe Stunde zugeschaltet ist der Direktor des Instituts für Virologie des Universitätsklinikums Bonn, Professor Dr. Hendrik Streek. Er berichtet über sein Forschungsprojekt in Gangelt, von dem er sich neue Erkenntnisse über die Verbreitungswege des Virus und daraus abgeleitet Empfehlungen für politische Entscheidungen verspricht. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO) führt am 27. März ihre Vertreterversammlung erstmals online durch und veröffentlicht einen Videomitschnitt auf ihrer Website www.kvno.de (siehe auch Seite 9). Aktuelle Informationen zur Corona-Krise hält die KVNO unter https://coronavirus.nrw bereit. 

Ethische Prinzipien

Zu Irritationen in der Ärzteschaft führt ein Entwurf der Landesregierung für ein Epidemiegesetz des Landes mit weitgehenden Durchgriffsrechten für die Regierung, darunter eine Zwangsverpflichtung von Ärztinnen und Ärzten bei der Pandemiebekämpfung. Im Ergebnis kommt es dazu nicht. Stattdessen unterstreicht der Landtag in dem am 14. April verabschiedeten Gesetz (www.landtag.nrw.de) die Bedeutung der Entscheidungsfreiheit ärztlicher Tätigkeit in medizinischen Fragen gemäß der ärztlichen Berufsordnung.

Bei der Expertenanhörung zum Pandemiegesetz im Landtag am 6. April geht Kammerpräsident Rudolf Henke auch auf ethische Fragen ein. „Wir hoffen alle, dass die starken staatlichen Einschnitte ins wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben den erhofften Erfolg bringen, das ,flatten the curve‘, damit die Überbelastung des Gesundheitswesens nachhaltig ausbleibt“, sagt er, „aber wir wissen es nicht und deshalb gilt: Erst wenn wir alles, und wirklich alles, unternommen haben, um die intensivmedizinische Versorgung und gegebenenfalls die Beatmung zu gewährleisten, darf es um die Frage gehen, wie wir Auswahlentscheidungen unter existenzieller Knappheit von Hilfsmitteln oder Personal treffen.“

Sich frühzeitig auf Prinzipien zu besinnen, die in einer solchen Lage Orientierung bieten könnten, hält Henke für richtig: „Dazu gehört vor allem ein Grundsatz: auch mit Blick auf das Würdegebot der Verfassung ist kein Menschenleben mehr wert als ein anderes.“ Die Ärzteschaft spricht sich nach den Worten ihres Präsidenten daher gegen Entscheidungen aufgrund des kalendarischen Alters, nach vermeintlichem Produktivwert einer Person oder gar nach sozialen Kriterien aus. „Aus diesem grundsätzlichen Respekt vor dem menschlichen Leben leitet sich die zentrale Bedeutung, aber auch die Notwendigkeit einer individuellen Betrachtung jeder Patientin und jedes Patienten ab. Dabei kann dann die Frage individuell geprüft werden – und muss es von den Kollegen in Bergamo und in Madrid und in New York in diesen Tagen auch: Welcher Ressourceneinsatz verspricht medizinisch gesehen die größtmögliche Aussicht auf Hilfe?“, sagt Henke in der Landtagsanhörung.

Exit-Szenarien

In der zweiten Aprilwoche häufen sich, auch unter dem Druck der wirtschaftlichen Schäden durch den Lockdown, die Exit-Szenarien. In einem Brief an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (Informationen der Landesregierung unter www.land.nrw/corona) weisen der Verband Freier Berufe im Lande Nordrhein-Westfalen (VFB), die Ärztekammer Nordrhein und der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) darauf hin, dass die Betriebs- und Werksärzte bei einer Lockerung der tiefen Einschnitte in das Wirtschaftsleben eine sehr wichtige Rolle spielen können: „Diese Ärzte sind mit ihrem Fachwissen und ihrer Verantwortung die Garanten dafür, dass differenziert und für die Gesellschaft nachvollziehbar die betrieblichen Aktivitäten aufgenommen werden können, ohne dass Infektionen mit dem Coronavirus dadurch erhöht in Kauf genommen werden“, so VFB-Vorsitzender Bernd Zimmer, Kammerpräsident Rudolf Henke und VDBW-Präsident Peter Panter (www.vfb-nw.de).

Bis auf weiteres gleicht jeder Versuch der politischen Feinsteuerung im Spannungsfeld zwischen Infektionsschutz und normalem Wirtschafts- und Sozialleben einer Navigation auf Sicht ohne zuverlässige technische Instrumente. Die von Kanzleramtsminister Braun beschriebene Wende des Tankers scheint – Stand 15. April – gelungen zu sein. Das RKI (www.rki.de) schätzt die sogenannte Reproduktionszahl auf 0,7. Das bedeutet, dass die Zahl der Neuinfektionen leicht zurückgeht. Die Bundeskanzlerin weiß, dass sich das sehr schnell wieder ändern kann, wenn die Menschen ihr Verhalten ändern (www.bundeskanzlerin.de). Sie spricht nach einer Videokonferenz mit den Ministerpräsidenten der Länder von einem „zerbrechlichen Zwischenerfolg“.