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Praxis

Rettungspflicht beim Suizid

27.05.2020 Seite 23
RAE Ausgabe 6/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2020

Seite 23

Ärzte sind strafrechtlich nicht verpflichtet, Patienten nach einem Suizidversuch gegen deren Willen das Leben zu retten. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden (Urteile vom 3. Juli 2019, Az.: 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18). Folge 117 der Reihe "Arzt und Recht"

von Dirk Schulenburg und Katharina Eibl

Die Landgerichte Hamburg und Berlin hatten jeweils einen angeklagten Arzt von dem Vorwurf freigesprochen, sich in den Jahren 2012 beziehungsweise 2013 durch das Unterlassen von Maßnahmen zur Rettung der bewusstlosen Suizidentinnen wegen Tötungsdelikten und unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht zu haben.

Hamburger Verfahren: Az. 5 StR 132/18

Zwei Freundinnen, eine 82- und eine 85-jährige Frau, beschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden.
Sie wandten sich an einen Sterbehilfeverein, der seine Unterstützung bei ihrer Selbsttötung von einem Gutachten zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit abhängig machte. Dieses erstellte der Angeklagte, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er hatte an der Festigkeit und Wohlerwogenheit der Suizidwünsche keine Zweifel.

Auf Verlangen der beiden Frauen wohnte der Angeklagte der Einnahme der tödlich wirkenden Medikamente bei und unterließ es auf deren ausdrücklichen Wunsch, nach Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit Rettungsmaßnahmen einzuleiten.

Der Tatvorwurf lautete: Totschlag durch Unterlassen in mittelbarer Täterschaft (§§ 212, 13 Absatz 1 und 25 Absatz 2 StGB). Außerdem war der Arzt wegen Unterlassener Hilfeleistung angeklagt (§ 323c StGB).

Berliner Verfahren: Urteil vom 3. Juli 2019 – 5 StR 393/18

Eine 44-jährige Frau litt seit ihrer Jugend an einer nicht lebensbedrohlichen, aber starke krampfartige Schmerzen verursachenden Erkrankung und hatte den angeklagten Arzt um Hilfe beim Sterben gebeten. Der Angeklagte betreute die nach Einnahme des Medikaments Bewusstlose – wie von ihr zuvor gewünscht – während ihres zweieinhalb Tage andauernden Sterbens. Hilfe zur Rettung ihres Lebens leistete er nicht. Gemäß den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Berlin hatte der Angeklagte als Hausarzt der Patientin zudem Zugang zu einem in hoher Dosierung tödlich wirkenden Medikament verschafft.

Die Landgerichte Hamburg und Berlin hatten die Angeklagten aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen freigesprochen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der BGH entschied: Die Ärzte durften die Patientinnen sterben lassen, denn diese hatten sich mit klarem Verstand und freiverantwortlich für ihren Tod entschieden.

Eine Verantwortlichkeit für die im Vorfeld geleisteten Beiträge zu den Suiziden hätte vorausgesetzt, dass die Frauen nicht in der Lage waren, einen freiverantwortlichen Selbsttötungswillen zu bilden. In beiden Fällen haben die Landgerichte keine die Eigenveranwortlichkeit einschränkenden Umstände festgestellt. Die Sterbewünsche beruhten vielmehr auf einer im Laufe der Zeit entwickelten, bilanzierenden „Lebensmüdigkeit“.

Beide Angeklagte waren, so der BGH, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit der Suizidentinnen auch nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet. Der Angeklagte des Hamburger Verfahrens hatte schon die ärztliche Behandlung der beiden sterbewilligen Frauen abgelehnt, da ihn dies zu lebensrettenden Maßnahmen hätte verpflichten können. Der Angeklagte im Berliner Verfahren war jedenfalls durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der später Verstorbenen von der aufgrund seiner Stellung als behandelnder Hausarzt grundsätzlich bestehenden Pflicht zur Rettung des Lebens seiner Patientin entbunden.

Eine in Unglücksfällen jedermann obliegende Hilfspflicht nach § 323c StGB wurde nicht in strafbarer Weise verletzt. Da die Suizide sich jeweils als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Frauen darstellten, waren Rettungsmaßnahmen gegen deren Willen nicht geboten.

Geänderte Rechtsauffassung des BGH

Der BGH hat mit den aktuellen Urteilen seine alte Rechtsprechung aufgegeben. Ihr zufolge stellte sich nach dem Zeitpunkt, in dem der Sterbewillige nach Einnahme der Medikamente ins Koma gefallen war, die Hilfeleistungspflicht des anwesenden Arztes wieder her, da zu diesem Zeitpunkt der freie Wille zum Freitod nicht mehr festgestellt werden konnte. Ärzte hatten demnach eine Rechtspflicht zum Handeln.

Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB)

Der BGH erklärte auch, dass man die Fälle nicht an dem seit 2015 geltenden Straftatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) habe messen können. Dieser sei rückwirkend nicht anzuwenden gewesen.

Auch bei jetziger Tatbegehung würde er keine Rolle spielen, da die Vorschrift nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Grundgesetz unvereinbar und somit nichtig ist (BVerfGE v. 26.2.2020, Az.: I 525 - 2 BvR 2347/15).

Berufsrecht und Sterbebegleitung

Dass die angeklagten Ärzte mit der Hilfe zur Selbsttötung „möglicherweise ärztliche Berufspflichten verletzt“ hätten, sei für die Strafbarkeit ihres Verhaltens im Ergebnis „nicht von Relevanz“, so der BGH weiter.

Ärztinnen und Ärzten ist es berufsrechtlich „verboten, Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ (§ 16 der Berufsordnung für die nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte). Das Berufsrecht legt damit ein über das Strafrecht hinausgehende Verbot einer ärztlichen Beihilfe zu Selbsttötungen fest.

Dr. iur. Dirk Schulenburg, MBA, MHMM, ist Justiziar der Ärztekammer Nordrhein und Katharina Eibl, Fachanwältin für Medizinrecht, ist Referentin der Rechtsabteilung.