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Interview

„Gesundheitspolitik im Zeitraffer“

23.01.2020 Seite 15
RAE Ausgabe 2/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2020

Seite 15

Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein © KV Nordrhein
Die Politik hält die Akteure im Gesundheitswesen mit einem Gesetz nach dem anderen in Atem. Viele Regelungen betreffen die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie die Psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten direkt. Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, nimmt Stellung zu den Folgen des Gesetzesmarathons und den Top-Themen 2020.      

RhÄ: Herr Dr. Bergmann, unser Gesundheitssystem ist aktuell mehr denn je eine Baustelle. Wie bewerten Sie die Situation?
Bergmann: Es ist nicht einfach, den Überblick zu behalten bei 20 Gesetzen in 20 Monaten. Inzwischen darf man wohl von Gesundheitspolitik im Zeitraffer sprechen. Vieles geht auch in die richtige Richtung. Die Analysen zu Defiziten im System, etwa bei der Notfallversorgung, sind ja nicht falsch. Bei der Lösung der Probleme sind wir bekanntlich nicht immer einer Meinung mit dem Minister, der sich gegenüber Argumenten aber aufgeschlossen zeigt. Die konkreten Auswirkungen auf die Praxen unserer Mitglieder im Alltag – wie beispielsweise bei der Organisation der offenen Sprechstunde – sind aber augenscheinlich nicht immer im Blickfeld der Gesetzgebung.

RhÄ: Hat sich Minister Spahn bei den Vorgaben zur Versorgung psychisch Kranker von Nordrhein inspirieren lassen?
Bergmann: Durchaus. Im neuen Reformgesetz zur Psychotherapeuten-Ausbildung steht, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bis 31. Dezember 2020 Regelungen für eine „berufsübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung insbesondere für schwer psychisch kranke Versicherte mit einem komplexen psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlungsbedarf“ beschließen soll. Das ist fast wortwörtlich eine Beschreibung unseres erfolgreichen Innovationsfonds-Projekts NPPV.

RhÄ: Andererseits hat die KVNO etwa das „Termin-Servicegesetz“ (TSVG) der Bundesregierung harsch kritisiert.
Bergmann: Aus gutem Grund, wobei wir unterscheiden müssen zwischen unserer Kritik an der Begründung des Gesetzes, das offensichtlich als „Kompensation“ für die bisher verhinderte Bürgerversicherung zu verstehen ist, und der Kritik an den Vorgaben, die tief in den Praxisalltag eingreifen. Die oft kolportierte allgemeine Terminnot gibt es aus unserer Sicht nur bedingt, daher brauchen wir auch keine komplizierten und bürokratischen Regelungen für den Zugang der gesetzlich Versicherten zur ambulanten Versorgung. Die Selbstverwaltung sieht sich ständig mit neuen Aufgaben konfrontiert. Die größte ist zweifellos der Ausbau der Notdienst-Hotline 11 6 11 7, die seit Januar rund um die Uhr zu erreichen und auch zur Nummer der Termin-Servicestelle geworden ist.

RhÄ: Wie geht es 2020 weiter?
Bergmann: Top-Themen sind die Notfallversorgung und die Digitalisierung im Gesundheitssystem. Spahn hat gerade seinen Referentenentwurf für ein  Notfallreform-Gesetz vorgelegt. Den Fahrplan für die Digitalisierung regelt das „Digitale-Versorgung-Gesetz“ (DVG). Gesundheits-Apps werden Kassenleistung, das Angebot von Videosprechstunden wird erleichtert. Regelungen zur elektronischen Patientenakte (ePA) sind nach Datenschutzbedenken zunächst aus dem DVG ausgeklammert worden; sie soll trotzdem zum 1. Januar 2021 starten. In weiteren Gesetzen ist die Einführung von eRezept und eAU geregelt. Der Erfolg der Digitalisierung wird jedoch maßgeblich davon abhängen, dass die Sicherheit der Patientendaten auf höchstem Niveau gewährleistet ist.

RhÄ: Bei den Vorstößen zur Reform der Notfallversorgung gab es heftigen Widerspruch von der KVNO. An welcher Stelle?
Bergmann: In einer Diskussionsvorlage des BMG war noch von einem dritten Sektor die Rede und davon, den Sicherstellungsauftrag für die sprechstundenfreien Zeiten an die Länder abzugeben. Das haben wir abgelehnt. Beides ist nun vom Tisch. Der neue Referentenentwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung. Er steht ganz deutlich unter dem Motto „ambulant vor stationär“. Die zuvor geäußerte Kritik der niedergelassenen Ärzte ist an vielen Stellen berücksichtigt worden. Im Detail werden wir die Vorschläge nun weiter aufarbeiten.

RhÄ: Ist die KV Nordrhein darauf vorbereitet, Integrierte Notfallzentren (INZ) zu betreiben?
Bergmann: Ja, das sind wir. Über 90 Prozent unserer Notdienstpraxen sind bereits räumlich und organisatorisch mit einer Klinik verbunden. Wir unterstützen die Gemeinsame Erklärung von Land NRW, Kassen und Ärzten zur flächendeckenden Einführung von Portalpraxen bis 2022, deren Aufgaben und Ausgestaltung weitgehend den „Integrierten Notfallzentren“ entsprechen. Hier sind wir auf einem guten Weg. Wir sind in der Lage, die ambulante Notfallversorgung wie von uns verlangt    rund um die Uhr sicherzustellen. Dafür werden wir im Einzelnen regionalspezifische Lösungen entwickeln.

RhÄ: Welche weiteren Themen stehen auf der politischen Agenda?
Bergmann: Ein wichtiges Thema ist die Auflösung des Konfliktes zwischen den Kassen im Risikostrukturausgleich (RSA). Es ist nicht weiter hinnehmbar, dass dieser Dissens auf dem Rücken der Vertragsärzte ausgetragen wird. Das Bundesversicherungsamt (BVA) versucht auch regional Einfluss auf alle Bereiche des Vertragsgeschäftes zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen zu nehmen und höhlt damit die gemeinsame Selbstverwaltung aus. Hier ist die Politik wirklich gefragt.

Die Fragen stellten Dr. Heiko Schmitz und Thomas Lillig
Dr. Heiko Schmitz leitet den Bereich Presse und Medien der KV Nordrhein. Thomas Lillig ist Redakteur in der Abteilung Medien.