Celina Albanus und Dr. Dirk Albanus absolvieren in einem kleinen Gesundheitsposten in Tucunaré im Regenwald des peruanischen Nordostens einen freiwilligen humanitären Einsatz. Von dem lediglich über den Chambira-Fluss erreichbaren Ort schrieben sie im Rahmen ihrer Rundbriefe an Freunde und Familie auch einen Fallbericht, der die medizinisch und sozial anders gelagerten Probleme der Arbeit deutlich macht. Auch die unzureichenden Möglichkeiten zur weitergehenden diagnostischen Klärung werden klar. Das RÄ dokumentiert die Fallvignette, die von der sechs Monate alten Patientin Rahelita (Name geändert) handelt.
von Celina Albanus und Dirk Albanus
Anfang des Monats schickte uns der Gesundheitshelfer aus Caymituyo eine Familie mit Säugling. Dazu verfasste er einen kleinen Brief, quasi ein Einweisungsschreiben. Ziemlich recht sollte er haben mit seiner Verdachtsdiagnose: Ein schwere Unterernährung lag vor, bei einem Kind von fast einem halben Jahr, das mit 3.325 Gramm so viel wog wie ein Neugeborenes. Die Haut sah typisch verändert aus, wie es bei Vitaminmängeln vorkommt. Eigentlich sind diese nicht möglich, wenn die Mutter das Baby adäquat stillt. Das Zauberwort ist „Wenn“, denn das ist hier, wie wir bereits mehrfach feststellen mussten, keine Selbstverständlichkeit. Warum die Mutter das Stillen quasi beendet hatte und ihr Mädchen nur mit etwas „Chapo“, einer Kochbananensuppe, fütterte, konnten wir nicht klären. Das Resultat war jedenfalls gut dokumentiert, denn wir hatten einen Gewichtsverlauf, der unter anderem auf den Dorfbesuchen der Gesundheitsarbeiter erhoben wurde. Der zeigte einen gefährlichen Trend, und zwar nach unten. Am Aufnahmetag wog das Kind so viel wie vor drei Monaten. Die Behandlung einer Erkrankung, die über drei Monate entstanden ist, erfolgt nicht an einem Tag. Ein Umstand, den die Eltern der Kleinen kaum, eher nicht, verstanden. Bis die Eltern schließlich einwilligten, stationär zu bleiben, erforderte es alle Überredungskünste.
Wenn man die Eltern also von der Hospitalisation überzeugt hat, geht man nach folgendem Schema vor: Zunächst wird das Kind gewogen und gemessen, um den Schweregrad zu ermitteln. Zur Visualisierung existieren Perzentilen, auf denen die Entwicklung und das Verhältnis von Größe zu Gewicht und zum Alter aufgezeichnet wird. Rahelita hatte sich seit der Geburt nicht entlang ihrer Linie entwickelt, sondern durchbrach diese nach unten hin. Aktuell befand sich das Kind außerhalb der äußersten Linie – in dem Bereich, in dem sich nur drei von 1.000 Kindern wiederfinden. Eine andere Möglichkeit zur Einschätzung des Schweregrads, insbesondere bei älteren Kindern, ist die Anwendung eines Armbandes, das den sogenannten MUAC anzeigt: die Middle Upper Arm Circumference. Je nach Umfang des Oberarmes des Kindes gibt eine Farbskala den Grad der Unterernährung an.
Wir wussten nun, dass Rahelita an hochgradiger Unterernährung litt. Dabei gibt es zwei Extremformen: Die Kinder können aufgrund der viel zu niedrigen Kalorienzufuhr völlig abgemagert sein und sind weinerlich. Sobald man ihnen aber Nahrung anbietet, essen sie mit großem Hunger. Diese Form nennt sich „Marasmus“. Liegt die Ursache vor allem in einem Proteinmangel begründet (keine Milch), dann bildet der Körper Ödeme aus. Das Kind wirkt dann auf den ersten Blick eher aufgedunsen und gar nicht so abgemagert. Beginnt man bei diesem Kind mit der Ernährung, verliert das Kind in den Tagen vier bis sechs an Gewicht, nachdem es initial kurz zugelegt hat, da das Wasser ausgeschwemmt wird, bevor weiter Masse zugelegt wird. Diese Form nennt sich „Kwashiorkor“. Rahelita hatte wohl eine Mischform: Sie hatte ein extrem zu niedriges Gewicht und nur dezente Ödeme, was für den Marasmus spricht. Andererseits zeigte sie für den Kwashiorkor typische Hauterscheinungen: Wunden am Gesäß, die an einen Vitaminmangel erinnern. Wir halten fest: Schwere Unterernährung durch monatelangen Kalorien- und Proteinmangel.
Anschließend stellte sich die Frage, ob eine komplizierte Art der Unterernährung vorliegt. Als kompliziert wird sie immer dann bezeichnet, wenn zusätzliche Erkrankungen vorliegen (z.B. ein Atemwegsinfekt oder Durchfall) oder das Kind keinerlei Nahrung mehr zu sich nehmen will. Dann ist eine stationäre Behandlung indiziert. Rahelita befand sich auch hier eher im roten Bereich. Sie hatte laut Eltern einen „grippalen Infekt“ ohne Fieber (untergewichtige Kinder zeigen eher mit Unterkühlung einen Infekt an). Klar war auch, dass die Ernährung zu Hause in ihrem Dorf nicht funktioniert, da die Mutter keine Milch mehr hatte. Daher beharrten wir darauf, dass die Familie blieb.
Wie päppelt man nun so ein Kind? Wir wälzten Bücher, konsultierten Kinderärzte und rührten Milch an. Alle zwei Stunden versuchten wir dem Kind mittels einer Spritze, jeden einzelnen Milliliter schmackhaft zu machen. Unsere Hebamme Eli gab der Mutter viele Ratschläge und half beim Stillen – denn obwohl die Brust kaum förderte, musste Rahelita auch mal nuckeln – nur dieser Reiz regt die Milchproduktion an. So erreichten wir tatsächliche eine leichte Gewichtszunahme (50 g in 4 Tagen) – das war zwar noch nicht am Ziel dran, aber ging in die richtige Richtung. Wir wuschen das Kind, versorgten seine Wunden mit Zink-Creme (eine Tube aus Deutschland ist noch hier) – nur zum Lächeln brachten wir das Kind noch nicht.
Am fünften Tag der Behandlung war die Familie verschwunden. Das kam nicht ganz überraschend, denn fast jeden Tag aufs Neue versuchten wir den Eltern klar zu machen, dass sie noch bleiben sollten. Die meisten Patienten lassen sich nicht lange halten, die Gründe sind meistens, dass das Essen ausgeht oder noch andere Kinder zu Hause versorgt werden wollen. Daher hatten wir den Eltern schon am Vortag gezeigt, wie man Milchpulver anrührt (Wasser aus dem Fluss unbedingt vorher abkochen!) und gehofft, dass sie das weiterführen. Später im Monat sollten wir die Fortsetzung erfahren.
Die Freizeitgestaltung in Tucunaré lässt nur begrenzten Spielraum. Wir sind nicht unzufrieden, doch hin und wieder ein bisschen was von der Umgebung zu sehen, tut der Seele gut. Wir wollten also mal wieder aufs Wasser und hatten einen ambitionierten Plan: Bis nach Caymituyo wollten wir paddeln, denn dort kam die kleine Rahelita her, deren Kontrolltermin die Eltern hatten sausen lassen, nachdem sie sich bereits gegen ärztlichen Rat aus der stationären Betreuung entließen.
Nach dreieinhalb Stunden unentwegten Paddelns, Pausen waren in unserem knappen Zeitplan nicht vorgesehen, kamen wir in Caymituyo an und, welche Überraschung, der Papa der kleinen Rahelita saß direkt am Ufer. Eine längere Suche blieb uns also erspart, denn auf die Nachfrage, warum sie nicht zu ihrem Termin gekommen seien, teilte und der Vater mit, dass die kleine Rahelita vor drei Tagen verstorben und gestern beerdigt worden sei. Wenngleich die Trauer ehrlich schien, war es doch so, dass der Kontrolltermin von dort aus gerechnet bereits sechs Tage zuvor war und ja prinzipiell immer die Möglichkeit bestand, bei einer Verschlechterung wieder die Klinik aufzusuchen.
Wir gehen also davon aus, dass das mitgegebene Milchpulver keine Anwendung fand und die Eltern ihrer Tochter keine großen Chancen beimaßen und einfach nichts mehr unternahmen. Der Mund von Rahelita sei am Ende sehr trocken gewesen und sie habe sehr flach geatmet. Da die Mutter in der Klinikzeit keine suffiziente Milchbildung aufwies und die kleine Rahelita ohnehin nie ausreichend von der Brust getrunken hätte, müssen wir also davon ausgehen, dass sie am Ende verdurstet/verhungert ist. Das sind Momente, die einem wirklich schwer werden, denn wir hatten ja erlebt, dass es mit einem ausreichenden Maß an Aufmerksamkeit, regelmäßiger Nahrungszufuhr und der notwendigen Fürsorge zu einer Besserung der Haut und auch zur Gewichtszunahme gekommen war und kommen konnte. Wenn die Hilflosigkeit unsererseits so greifbar wird, kommen manchmal auch Zweifel auf. Mit der Frage nach gerecht oder ungerecht darf man hier aber wohl nicht beginnen. Wir würden zu unglücklich und die Geschichte mit dem „Weltschmerz“ käme wieder auf.
So packten wir also unsere Paddel und ruderten Richtung Heimat, nun mit der Strömung. Als die Sonne flacher stand, tauchte sie die Landschaft in ein herrliches Licht, welches aufgrund der Form der Fortbewegung nicht durch ein Knattern gestört wurde.
Celina Albanus und Dr. Dirk Albanus studierten an der RWTH Aachen Humanmedizin. Für die Hilfsorganisation Freundeskreis Indianerhilfe (www.indianerhilfe.de) aus Burscheid ist das Ehepaar seit vergangenem Sommer in der örtlichen Gesundheitsstation in Tucunaré im Nordosten Perus tätig. Einen Kontakt zur Heimat stellt auch der Düsseldorfer Internist und Tropenmediziner Dr. Burkhard Rieke her.