Hohe Mauern, starke Gitter, verriegelte Türen – und dahinter wird Medizin gemacht. Dr. Heike Schütt, Fachärztin für Allgemeinmedizin, und Dr. Horst Sabiers, Facharzt für Chirurgie, schildern, was es bedeutet, in einer Justizvollzugsanstalt (JVA) zu arbeiten, wie man mit Vorurteilen gegenüber Gefängnisärzten umgeht und dass sie sich während der Arbeit sicher fühlen.
RhÄ: Wie kamen Sie zu Ihrer Berufswahl?
Schütt: Durch meinen ersten Mann, der bei der Polizei tätig war, kam ich in den Blutprobendienst. Der damalige Arzt der Justizvollzugsanstalt Ulmer Höh in Düsseldorf fragte bei den diensthabenden Ärztinnen und Ärzten nach, ob diese nicht Interesse daran hätten, die abendliche Einzelfallversorgung an der JVA zu übernehmen. Ich stimmte zu und das ging dann fließend in die Vertretung der regulären Sprechstunde über. Nach fast 15 Jahren als Vertretungsärztin in verschiedenen Hausarztpraxen entschloss ich mich schließlich dazu, den Schritt hinter die Gitter zu wagen. Bis heute bereue ich diese Entscheidung nicht. Hier muss ich mich nicht mit Bürokratie, Budgets und ständig wechselnden Bestimmungen von Kassen und Kassenärztlicher Vereinigung herumärgern. Natürlich habe ich auch in der JVA die Behandlungskosten im Blick, denn auch hier gilt das Gebot der Wirtschaftlichkeit. Aber während der Haft ruht die Krankenversicherung, denn der Staat übernimmt die Kosten der medizinischen Versorgung der Inhaftierten.
Sabiers: Mich haben ehemalige Kollegen angesprochen, die bereits jahrelang als Anstaltsärzte und auch im Ministerium der Justiz arbeiteten. Sie waren der Meinung, dass ein lebenserfahrener Kollege für die sinnvolle und wichtige Tätigkeit hinter Gittern benötigt würde. Ich hatte zuvor im Städtischen Krankenhaus gearbeitet. Jetzt bin ich in einem breiten beruflichen Spektrum bei guten Arbeitsbedingungen und ohne Nacht- und Wochenenddienste tätig.
RhÄ: Wie gestaltet sich Ihr beruflicher Alltag? Welche Unterschiede gibt es bei der Versorgung der Patienten vor und hinter Gittern?
Schütt: Neben den üblichen Krankheitsbildern einer allgemeinmedizinischen Praxis habe ich es häufig mit drogen- und alkoholabhängigen Patienten zu tun. Auch die Zahl der psychiatrisch Erkrankten ist statistisch höher als außerhalb der Mauern. Ich empfinde die Haft oft als Chance für meine Patienten. Hier können sie sich nicht so schnell der Behandlung entziehen, wenn erste Schwierigkeiten oder Differenzen auftauchen. Ich denke, dass wir oft deutlich lebensverlängernd wirken.
Für viele Inhaftierte ist der Arzt – neben dem Pfarrer oder Seelsorger – einer der wenigen Ansprechpartner, die durch Schweigepflicht gebunden sind. Das Schöne an der Arbeit hier ist, dass man immer weiß, ob die Patienten auch ihre Facharzt-Termine wahrgenommen haben (lacht). Anders als in der herkömmlichen Praxis habe ich im Behandlungszimmer immer ein bis zwei Mitarbeiter aus dem medizinischen Dienst dabei, von denen einer parallel am Computer die Patientenakte führt. Da wir viele nicht deutschsprachige Inhaftierte haben, sind manchmal auch Dolmetscher mit im Raum. Bei uns in Essen gibt es einen sogenannten Kulturmittler, der Arabisch und Russisch spricht. Das hilft ungemein. Das Sprachen-Repertoire soll zudem in den kommenden Jahren durch Dolmetscher-Online-Dienste ergänzt werden.
Aktuell bestimmt – wie wohl überall – Corona unseren Alltag. Wir haben Pandemiepläne, an die wir uns halten müssen, und wir stimmen uns eng mit dem Gesundheitsamt der Stadt ab. Neue Inhaftierte müssen für zwei Wochen in Isolation, symptomatische Inhaftierte auch in Quarantäne.
Sabiers: Am ehesten lässt sich die Arbeit des Anstaltsarztes mit der in einer großen Hausarztpraxis vergleichen. Der Kontakt mit den Menschen steht auch hier im Mittelpunkt. Alle Inhaftierten durchlaufen eine Eingangsuntersuchung, wobei die meisten gesund sind. Im Fokus stehen die akut oder chronisch erkrankten Gefangenen. Dabei müssen wir uns das Vertrauen der Inhaftierten oft erst erarbeiten, da sie ja keine Möglichkeit haben, sich ihren Behandler auszusuchen. Wir sind nun einmal Ansprechpartner bei körperlichen oder seelischen Nöten.
Zahlreiche logistische Aufgaben müssen erfüllt werden, wie die Kommunikation mit den Fachärzten von außerhalb, die in unseren Räumen Sprechstunden abhalten. Die Apotheke muss ebenfalls organisiert und tagesaktuell kontrolliert werden. Mit den Vollzugsbeamten, dem psychologischen Dienst und dem Sozialdienst, der Küche und der Verwaltungs- und Anstaltsleitung ist eine enge Zusammenarbeit erforderlich. Es müssen oft kurzfristig Anfragen beantwortet und Stellungnahmen abgegeben werden, auch bezüglich Haft- und Schuldfähigkeit. Anfragen von externen Behörden, Ämtern, der Bezirksregierung, von Versicherungen, Polizei, Gerichten, Anwälten, Pflegern und auch Angehörigen müssen erledigt, Nachfragen und Beschwerden beantwortet werden. Untersuchungen auf Hepatitis, HIV, Tuberkulose und venerische Erkrankungen bei unseren zahlreichen oft substituierten Risikopatienten werden durchgeführt und in enger Kooperation mit dem Justizvollzugskrankenhaus NRW in Fröndenberg behandelt.
Wie in Essen stehen auch wir in Köln angesichts der Corona-Pandemie über unseren abteilungsübergreifenden Pandemiestab in engem Kontakt mit den Gesundheitsämtern. Neue Häftlinge werden in Gefährdeten-Gruppen eingeteilt, Hafthäuser zu Quarantänestationen umgewidmet und Inhaftierte in kleineren Gruppen untergebracht. Wir versuchen natürlich unser Bestes, um alle Beteiligten zu schützen.
RhÄ: Sie üben Ihren Beruf in einer für viele Menschen außergewöhnlichen Umgebung aus. Wie reagiert Ihr Umfeld, wenn es davon erfährt? Hatten Sie bereits mit Vorurteilen zu kämpfen?
Schütt: Vorurteile betreffen meist Sicherheitsaspekte, was ich überhaupt nicht verstehen kann. Dieser Beruf ist in vieler Hinsicht absolut sicher. Ich bin im öffentlichen Dienst tätig, habe geregelte Arbeitszeiten und ein gutes Gehalt. Alle Justizvollzugsanstalten haben organisierte und kontrollierte Alarmpläne, die sehr selten zum Einsatz kommen. Die Mehrzahl der in Deutschland Inhaftierten sind Männer, der Frauenanteil in den Justizvollzugsanstalten liegt bei nur etwa vier Prozent. Sicher gibt es da den ein oder anderen, der von mir nicht untersucht werden will, weil ich eine Frau bin.
Sabiers: Sagen wir mal so: Neuro- und Herzchirurgen haben sicherlich ein deutlich besseres Image in der Gesellschaft als Gefängnisärzte (lacht). Persönlich hatte ich allerdings noch nie mit Vorurteilen zu kämpfen. Gelegentlich ruft unser Engagement für die uns anvertrauten Inhaftierten und das Umfeld, in dem wir arbeiten, eine gewisse Verwunderung hervor.
RhÄ: Viele junge Ärztinnen und Ärzte schrecken vor einer Anstellung im Justizvollzug zurück, weil sie um ihre persönliche Sicherheit fürchten. Wie gehen Sie mit diesem Aspekt um?
Schütt: Bei den ganz jungen Kolleginnen und Kollegen kann ich das nachvollziehen. Ich denke, man sollte schon etwas Lebenserfahrung gesammelt haben, bevor man in einer JVA arbeitet. Für mich gibt es keinen Ort, an dem ich mich sicherer fühle als an meinem Arbeitsplatz. Wenn ich hier um Hilfe rufe, dann bin ich mir zu 100 Prozent sicher, dass diese auch sehr schnell kommt. Die gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern des Allgemeinen Vollzugsdienstes ist dazu sehr wichtig. Mit unserem durch US-amerikanische Filme geprägten Bild von Gefängnis hat das Leben in der JVA nichts zu tun.
Sabiers: Im Umgang mit den Inhaftierten hilft sicher freundliche Gelassenheit unter strikter Einhaltung der vorgegebenen Verhaltensregeln.
RhÄ: Als Angestellte des Landes sind Sie „Staatsdiener“, zugleich als Ärzte aber Ihren Patienten verpflichtet. Wie gehen Sie mit diesem Konflikt um? Wie handhaben Sie die ärztliche Schweigepflicht?
Schütt: Ich persönlich schaue mir die Delikte meiner Patienten eher selten an. Ich möchte ihnen möglichst unvoreingenommen gegenübertreten. Es gibt allerdings eine Gruppe, bei der man sehr vorsichtig sein muss, und das sind nicht, wie die meisten wohl vermuten, Mörder, sondern Betrüger. Deren Lügen machen es auch uns Ärzten nicht mehr so einfach zu differenzieren. Wir haben natürlich auch Wiederholungstäter, solche, die die JVA als ihre Heimat bezeichnen. Man erfährt einfach mehr über seine Patienten als in einer herkömmlichen Hausarztpraxis.
Sabiers: Auch für Gefangene gelten die Regeln der ärztlichen Schweigepflicht. Dadurch entsteht kein Konflikt. Die Situation lässt sich am ehesten mit der Arbeit eines Betriebsarztes vergleichen, der unter ähnlichen Vorgaben tätig wird. Ausnahmen gibt es nur bei einer Gefährdung von Leib und Leben, hier speziell bei einer Gefährdung der Sicherheit in der Anstalt. Sind Anfragen zu beantworten, wird von den Inhaftierten eine Schweigepflichtentbindung eingeholt, meist liegt eine solche aber bereits der Anfrage bei, wie wir das von Versicherungsanfragen kennen.
Das Interview führte Vassiliki Latrovali