In den Niederlanden stieg im Oktober nicht nur die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus, sondern auch die der intensivpflichtigen Patientinnen und Patienten. Das Gesundheitssystem gerät – wie schon in der ersten Welle im Frühjahr – an seine Grenzen. Krankenhäuser in NRW haben sich erneut bereit erklärt, den Nachbarn zu helfen, vorausgesetzt, man hat ausreichend Kapazitäten für die eigenen Patienten.
von Heike Korzilius
COVID-19 – nur eine Grippe? Professor Dr. Thomas Scheeren klingt eindringlich, wenn er versucht, diese Ansicht zu entkräften. „Ich lade jeden ein, der das glaubt, einen Tag mit mir auf der Intensivstation mitzulaufen“, sagt der Intensivmediziner bei einer Online-Pressekonferenz am 30. Oktober. Die Sterblichkeit liege bei COVID-19 rund zehnmal höher als bei der normalen Grippe. Schweres Organversagen, schwerste Lungenschäden, Gerinnungsstörungen: „Das kann man mit einer Influenza nicht vergleichen“, meint Scheeren, der aus Meschede im Sauerland stammt und seit zehn Jahren an der Universitätsklinik im niederländischen Groningen arbeitet.
Die Pflegekräfte sind erschöpft
Wie in vielen Ländern Europas breitet sich auch in den Niederlanden das Coronavirus rasant aus. Das Land verzeichnete bereits Ende Oktober rund 15.000 Neuinfektionen täglich. Man könne davon ausgehen, dass von den mit SARS-CoV-2 Infizierten rund ein Prozent auf der Intensivstation behandelt werden müsse. Die Niederlande verfügten jedoch nur über 9,7 Intensivbetten je 100.000 Einwohner, erklärt Scheeren. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 35. „Die Hälfte der Intensivbetten im Land ist bereits jetzt mit COVID-19-Patienten belegt“, sagt der Intensivmediziner. „Wenn es so weitergeht, wissen wir spätestens in einem Monat nicht mehr, wie wir unsere Patienten behandeln sollen.“ Dazu komme der Mangel an Pflegepersonal. Rund 20 Prozent der Intensivpflegerinnen und -pfleger seien aufgrund der Belastungen aus der ersten Corona-Welle langfristig erkrankt. Sie litten unter Burnout und Erschöpfung. Damit sei die Ausgangsposition zum Beginn der zweiten Welle schlechter als im Frühjahr.
Damals haben insbesondere Krankenhäuser im benachbarten Nordrhein-Westfalen zur Entlastung des niederländischen Systems schwer kranke Patienten aufgenommen. Die nordrhein-westfälische Landesregierung habe 50 Patienten aus den Niederlanden, aber auch zehn Patienten aus Italien und acht aus Frankreich an die Kliniken des Landes vermittelt, teilt das NRW-Gesundheitsministerium dem Rheinischen Ärzteblatt auf Anfrage mit. „Dazu kommen weitere Aufnahmen aufgrund direkter bilateraler Kontakte der Krankenhäuser. Diese Zahlen werden von der Landesregierung jedoch nicht gesondert erhoben“, erklärt ein Sprecher. Aktuell würden acht ausländische Patienten in nordrhein-westfälischen Krankenhäusern versorgt, zwei aus den Niederlanden und sechs aus dem besonders betroffenen Belgien.
Koordiniert wird die Behandlung ausländischer COVID-19-Patienten vom Universitätsklinikum Münster (UKM). 87 Kliniken in NRW hätten bislang ihre Hilfsbereitschaft bekundet, erklärt der Leiter Internationale Patientenmanagement am UKM, Dr. Vincent Hofbauer. Die Erfahrungen aus dem vergangenen Frühjahr seien allesamt sehr gut gewesen, betont der Chirurg. „Es musste niemand wegen Überfüllung abgewiesen werden. Bei uns war weit ausreichende Kapazität vorhanden.“
Die Bilder aus Bergamo vor Augen
Das St. Elisabeth Krankenhaus in Jülich gehörte zu Beginn des Jahres zu denen, die Nachbarschaftshilfe leisteten. Es nahm eine schwerkranke COVID-19-Patientin aus den Niederlanden auf. „Unser Intensiv-Team war hoch motiviert, hoch professionell und absolut diszipliniert im Umgang mit den Corona-Isolationsmaßnahmen“, erklärt der Chefarzt Anästhesie und Intensivmedizin, Marcus Flucht, gegenüber dem Rheinischen Ärzteblatt. Das habe maßgeblich die Entscheidung des internen Krisenstabs für eine Aufnahme der niederländischen Patientin beeinflusst. Dazu kam, dass es damals in der Region kaum intensivpflichtige COVID-19-Patienten gab und aufgrund der Pandemie die Belegung der Intensivstation mit anderen Erkrankten eher mäßig war. „Und natürlich hatte jeder die Bilder aus Bergamo, Frankreich und Spanien im Kopf“, sagt Flucht. „Aus diesen Gründen haben wir uns auch jetzt wieder bereiterklärt, uns an der Hilfsaktion zu beteiligen, sofern wir die Intensivbetten nicht für unsere eigenen Patienten benötigen.“
Die Erfahrungen aus dem Frühjahr waren durchweg gut
Das St. Elisabeth Krankenhaus ist ein kleines Haus der Grund- und Regelversorgung mit zehn Intensivbetten. „Die Intensivstation arbeitet aber auf einem fachlich sehr hohen Niveau“, erklärt Flucht. Bis auf extrakorporale Lungenersatzverfahren sei man in der Lage, Intensivpatienten nach den aktuell geltenden Standards und Leitlinien zu behandeln. Dazu komme, dass das Haus seit 2012 im Rahmen verschiedener Projekte wie zum Beispiel dem Virtuellen Krankenhaus mit der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care der Uniklinik der RWTH Aachen teleintensivmedizinische Visiten durchführen und so auf eine immense Expertise zurückgreifen könne. Zurzeit laufe in Jülich noch der operative Regelbetrieb. „Als kleine Intensivstation werden wir deshalb nicht mehr als einen Patienten aus dem Ausland aufnehmen können“, sagt der Chefarzt.
Mit der Patientin aus dem Frühjahr waren die Erfahrungen durchweg gut. Die Verlegung aus den Niederlanden sei von den Kolleginnen und Kollegen in Münster und in den Niederlanden sehr gut koordiniert worden, berichtet Flucht. Auch die Kommunikation mit den Angehörigen habe, zum Teil per Videokonferenz, problemlos funktioniert.
Professor Dr. Christian Karagiannidis, Leiter des ECMO-Zentrums an der Lungenklinik Köln-Merheim, bestätigt das und sagt wie Flucht: „Auch wir sind bereit, wieder niederländische Patienten aufzunehmen, insbesondere weil es beim ersten Mal wirklich gut gelaufen ist. Dazu braucht es aber freie Kapazitäten, die wir aktuell schon nicht mehr haben.“ Im Frühjahr versorgte sein Team einen extrem schwer an COVID-19 erkrankten jungen Mann aus Maastricht, der nach mehreren Wochen auf der Intensivstation gut auf die Behandlung ansprach und schließlich nach Maastricht zurückverlegt werden konnte.
Ende Oktober werden im Klinikum Merheim, einem Haus der Maximalversorgung, elf COVID-19-Patienten auf der Intensivstation behandelt, von denen sieben beatmet werden. Insgesamt stünden in den Kliniken der Stadt Köln mindestens 30 Intensivbetten für COVID-19-Patienten zur Verfügung. Diese Kapazitäten seien zur Not noch ausbaufähig, sagt Karagiannidis. „Aber der Preis, den die Krankenhäuser dafür bezahlen müssen, ist hoch.“
Und wie entscheidet man, ob die Kapazitäten für die Aufnahme weiterer, auch ausländischer Patienten im Herbst und Winter ausreichen? „Einen Restunsicherheitsfaktor gibt es immer“, meint der Pneumologe und Intensivmediziner. Aber es gebe auch vieles, was man planen könne, wie zum Beispiel elektive Eingriffe. „Auch bei den COVID-19-Patienten können wir mittlerweile besser einschätzen, wie lange diese durchschnittlich intensivmedizinisch betreut werden müssen“, sagt Karagiannidis. „Wir haben auch hier eine gewisse Routine entwickelt.“
Die meisten beatmungspflichtigen Patienten würden im Schnitt zwei bis vier Wochen beatmet. Doch auch Patienten, die extubiert seien und denen es besser gehe, benötigten häufig weiterhin intensive Betreuung. „Es ist nicht so wie bei vielen anderen Erkrankungen, bei denen es für die Patienten nach Überstehen der kritischen Phase relativ schnell wieder aufwärts geht. Das Langwierige ist das Typische bei dieser Erkrankung“, erklärt Karagiannidis.
Um Kapazitäten besser planen zu können, entwickele sein Team gerade zusammen mit dem Robert Koch-Institut ein Prognosemodell. Dabei sei es entscheidend, neben der Zahl der Neuinfektionen die Altersstruktur der Infizierten zu berücksichtigen. „Bisher war deren Durchschnittsalter immer noch deutlich niedriger als im Frühjahr. Und diese Patienten werden viel weniger intensivpflichtig“, sagt Karagiannidis. „Das heißt, selbst wenn die Zahlen stark steigen, bedeutet das nicht, dass wir auf den Intensivstationen exorbitant viele Fälle haben, solange die Alten nicht infiziert sind.“ Alt bedeute hier ein Alter über 60 Jahre. „Stand heute haben wir das noch im Griff. Aber das Durchschnittsalter der Infizierten steigt gerade merklich an“, meint der Intensivmediziner.
Prognosemodell hilft bei Entscheidungen
In Kombination mit dem Intensiv-Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, das er leitet und das täglich aktualisiert die freien Kapazitäten auf Deutschlands Intensivstationen listet, werde das Prognosemodell eine gute Entscheidungshilfe liefern. Das bedeute aber auch, dass Patienten dorthin verlegt werden müssten, wo Kapazitäten frei seien – und zwar nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern in ganz Europa. „Das Virus akzeptiert keine Grenzen. Und ich bin der Meinung, dass wir das auch nicht tun sollten, solange es ausreichend Kapazitäten gibt“, sagt Karagiannidis.
Intensivmedizin in den Niederlanden
Die Niederlande verfügen bei rund 17 Millionen Einwohnern über knapp 1.700 Intensivbetten. Das entspricht 9,7 Betten je 100.000 Einwohner. In Deutschland gibt es 35 Intensivbetten je 100.000 Einwohner. Doch die Zahlen lassen sich nur bedingt vergleichen. Denn für eine intensivmedizinische Behandlung gelten in den Niederlanden sehr viel restriktivere Kriterien als hierzulande, betont Professor Dr. Thomas Scheeren von der Universitätsklinik Groningen. Es sei gesellschaftlich akzeptiert, dass Patienten nicht in jedem Lebensalter und in jedem Zustand eine Maximaltherapie erhielten. Das sei in Deutschland undenkbar. „Ein chronisch kranker und multimorbider 90-Jähriger, der an COVID-19 erkrankt, kommt in den Niederlanden nicht auf die Intensivstation, sondern wird zu Hause oder im Altenheim versorgt“, sagt Scheeren. Intensivmedizinisch behandelt werde derjenige, der eine realistische Chance habe, mit einer angemessenen Lebensqualität ins Leben zurückzukehren. Entschieden werde darüber in jedem Einzelfall anhand von evidenzbasierten Scores.