Schutzimpfungen, das merken wir in einer Zeit, in der sich alle Welt einen passenden Impfstoff gegen SARS-CoV-2 wünscht noch stärker, gehören zu den wirksamsten und wichtigsten präventiven Maßnahmen der Medizin. Deshalb sagt die Ärzteschaft uneingeschränkt „Ja“ zu den vom Robert Koch-Institut (RKI) empfohlenen Schutzimpfungen und zu qualitätsgesicherten Präventionsmaßnahmen zur Steigerung von Impfquoten. Modellprojekte, nach denen die Grippeimpfung ab der kommenden Saison ohne Not in Apotheken durchgeführt werden sollen, sehen wir kritisch.
Die Ärzteschaft hat sich auf vielen Ärztetagen für eine stärkere Impfförderung in Deutschland eingesetzt, sitzt am Tisch der Nationalen Impfkonferenz und engagiert sich auf lokaler Ebene in zahllosen Programmen zur Steigerung der Durchimpfungsraten von Schutzimpfungen.
In das Masernschutzgesetz, das am 1. März 2020 in Kraft getreten ist, sind viele von der Ärzteschaft formulierte Forderungen aufgenommen worden, darunter die stärkere Einbeziehung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und das fachübergreifende Impfen. Und wenn wir das Gesetz jetzt umsetzen, zum Beispiel durch den Einsatz von Recallsystemen, die Einführung des digitalen Impfpasses, das fächerübergreifende Impfen und vertrauensbildende Maßnahmen in unseren Praxen, dann sind uns Ärztinnen und Ärzte gute Instrumente an die Hand gegeben worden, mit denen wir Impfquoten steigern können. Deshalb hätte es den Zusatz im Masernschutzgesetz, Grippeimpfungen in Modellversuchen auch in der Apotheke stattfinden zu lassen, nicht bedurft. Denn schaut man auf die Impfempfehlungen des RKI für Influenza und die dort definierten Hauptzielgruppen, dann glaube ich kaum, dass sich die Modellvorhaben an Patientenbedürfnissen orientieren. Die Ständige Impfkommission empfiehlt die jährliche Impfung gegen Grippe für alle, die ein erhöhtes Risiko haben, besonders schwer zu erkranken. Hierzu gehören Kinder, die aufgrund von Vorerkrankungen ein höheres Komplikationsrisiko haben, hierzu gehören Menschen ab 60 Jahre, chronisch Kranke jeden Alters, Schwangere sowie Bewohner von Alten- und Pflegeheimen. Und diese vulnerablen Zielgruppen sollen jetzt Menschen sein, die sich aufgrund angeblich fehlender Impfsprechstundenzeiten in Apotheken impfen lassen sollen?
Ganz ehrlich, das ist nicht gelebte Realität. Chronisch kranke Kinder und Erwachsene, schwangere Frauen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen sind doch standardmäßig in ärztlicher Betreuung und möchten das auch sein. Und ich halte es im Sinne der Qualität für geboten, dass Ärztinnen und Ärzte mit diesen vulnerablen Patientengruppen gemeinsam zu Impfentscheidungen kommen und dass das nicht „mal eben“ in Apotheken gemacht wird. Und wenn dann noch für die verbleibende Zielgruppe der gesunden Berufstätigen ab 60 Jahren der schnelle Zugang zum Impfen das Bedarfsargument ist, dann frage ich mich, warum nicht alle Kassen dem Vorbild der Deutschen Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin und der Barmer Ersatzkasse folgen und endlich, wie es das Präventionsgesetz vorgesehen hat, durch Betriebsärzte impfen lassen.
Und wenn jetzt, während der Corona-Pandemie, mit solchen Modellversuchen obendrein suggeriert wird, dass diese vulnerablen Personengruppen sich besser in Apotheken als in Arztpraxen impfen lassen sollten, dann ist das nicht nur aus Qualitätsgesichtspunkten ungut, sondern auch, weil damit unter Umständen der aktuelle Trend zementiert wird, wichtige Arztbesuche und Vorsorgeuntersuchungen aufzuschieben.
Rudolf Henke
Präsident der Ärztekammer Nordrhein