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Eine Frage der Ethik

25.03.2020 Seite 12
RAE Ausgabe 4/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 4/2020

Seite 12

© LukeWaitPhotography/istockphoto.com
Patientenverfügung, künstliche Ernährung, Sterbehilfe: Nicht selten stehen Ärztinnen und Ärzte vor schwierigen ethischen Fragestellungen. Auf dem Kammersymposium „Update Ethik: Therapiebegrenzung versus Therapieverzicht“ der Ärztekammer Nordrhein ging es um Wege der medizinethischen Entscheidungsfindung in moralischen Grenzsituationen. 

von Vassiliki Latrovali und Jocelyne Naujoks

So weit habe man bei der Planung der Veranstaltung tatsächlich nicht gedacht, begrüßte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, die rund 200 Teilnehmer des „Update Ethik: Therapiebegrenzung versus Therapieverzicht“ Ende Februar im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft. Denn die Veranstaltung hätte auf kaum einen passenderen Tag fallen können. Just einige Stunden zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe nach § 217 Strafgesetzbuch (StGB) für verfassungswidrig erklärt. „Das Bundesverfassungsgericht hat dem Selbstbestimmungsrecht am Ende des Lebens sehr weiten Raum zugestanden“, sagte Henke. Das Gericht argumentiere, dass das Recht auf selbstbestimmtes Sterben einen tatsächlichen Bedarf nach geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidhilfe postuliere. Nur so sei es möglich, lautete die Begründung der Richter, das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu realisieren.

Laut Bundesverfassungsgericht untersagt die Verfassung derweil keine gesetzgeberische Regulierung der Beihilfe zur Selbsttötung. „Die Gesellschaft als Ganzes muss Mittel und Wege suchen und finden, um zu verhindern, dass die organisierte Hilfe zur Selbsttötung zu einer Normalisierung des Suizids führt“, sagte Henke. Das Gericht selbst habe in seiner Begründung betont, dass der Gesetzgeber mit seinem Verbot einen legitimen Zweck verfolgt hätte. Die Annahme, das Angebot geschäftsmäßiger Suizidhilfe berge Gefahren für die Selbstbestimmung, wenn sie zu einer gesellschaftlichen Normalisierung der Suizidhilfe führe und autonomiegefährdende soziale Pressionen ausübe, sei gemäß Bundesverfassungsgericht nicht zu beanstanden. Das Urteil bestätige, dass auch zukünftig keine Ärztinnen und Ärzte zur Mitwirkung an einer Selbsttötung verpflichtet werden können. „Beihilfe zum Suizid gehört auch in Zukunft ganz grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten“, so der Kammerpräsident.  

Orientierung bieten bei medizinethischen Fragen 

Die Ärztekammer Nordrhein richtet ein Komitee zur medizinethischen Beratung ein. Das Gremium soll Ärztinnen und Ärzte auf deren Wunsch hin bei Entscheidungen in ethischen Grenzfällen unterstützen. „Je mehr Möglichkeiten die Medizin bietet, desto häufiger werden wir im täglichen Handeln mit ethischen Entscheidungsfragen konfrontiert. Wir als Ärztekammer wollen unsere Kammermitglieder in diesen komplexen Situationen nicht alleine lassen, sondern ihnen bei medizinethischen Fragestellungen helfen, Orientierung bieten und versuchen, gemeinsam zu guten Entscheidungen zu kommen“, sagte Henke, der Vorsitzender des Gründungsausschusses für das Komitee ist. 

Auch für junge Patientinnen und Patienten lohne es sich, eine Patientenverfügung zu verfassen, sagte Universitätsprofessor Dr. Dominik Groß, Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen. Insbesondere bei jungen Patienten, die zum Beispiel durch einen Motorrad- oder Autounfall schwer verletzt sind, stellen sich für Ärztinnen und Ärzte schwierige ethische Entscheidungen, so der Vorsitzende des Klinischen Ethik-Komitees des Aachener Universitätsklinikums. Eine Patientenverfügung müsse nicht zwingend eine Begrenzung der Therapie festschreiben. Sie könne auch genutzt werden, um beispielsweise eine Maximaltherapie einzufordern.

„Unerträgliches Leiden ist für jeden etwas anderes“, sagte Groß und riet dazu, Patientenverfügungen so konkret wie möglich zu fassen. Dafür benötigt der Patient laut Groß die Hilfe seines Arztes. Doch selbst schwammig formulierte Verfügungen sind ihm zufolge besser als gar keine. Sie ließen künfig zumindest Rückschlüsse auf die Werte des Patienten zu, so der Medizinethiker. Er empfiehlt, eine Patientenverfügung regelmäßig alle zwei Jahre mit Datum und Unterschrift zu bestätigen oder wenn sich die Lebensumstände verändert haben, zum Beispiel durch den Tod des Partners. Eine Patientenverfügung biete auch die Möglichkeit, die eigenen Wünsche zur Organspende festzulegen, sagte Professor Dr. Susanne Schwalen, Geschäftsführende Ärztin der Ärztekammer Nordrhein.

„Wem traue ich zu, einen kühlen Kopf zu bewahren?“

„Ein Bevollmächtigter muss zwei Qualitäten haben: Er muss mein uneingeschränktes Vertrauen genießen und er muss emotional stabil sein“, riet Groß für die Wahl eines Vorsorgebevollmächtigten. Häufig erteilten Patienten der Person die Vorsorgevollmacht, die ihnen emotional am nächsten stehe. Dies seien aber nicht immer die Personen, die in Entscheidungssituationen emotional stabil sind. „Stellen Sie sich die Frage, wem traue ich zu, in einer solchen Situation einen kühlen Kopf zu bewahren“, sagte Groß. Es könne auch sinnvoll sein, mehr als einen Vorsorgebevollmächtigten zu benennen. Wichtig dabei sei, die Bevollmächtigten zu hierarchisieren, da ansonsten das Risiko einer Pattsituation steige. Mit einer Betreuungsverfügung könne sich ein Patient für den Fall, dass eine rechtliche Betreuung erforderlich wird, eine Person als gesetzlichen Betreuer wünschen, so Groß. 

Dr. Stefan Meier, Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf, sprach sich für eine weitere Konkretisierung von Patientenverfügungen aus. Vorbild könne das aus den USA stammende Konzept Advance Care Planning, zu Deutsch vorausschauende Versorgungsplanung, sein. „Gemeinsam mit einem qualifizierten Gesprächsbegleiter werden konkrete Handlungsanweisungen für Notfälle formuliert und professionell dokumentiert“, so Meier. In den meisten Situationen bleibe Intensivmedizinern kaum Zeit, eine Patientenverfügung gründlich zu hinterfragen. Hier müsse schnell gehandelt werden. „Eine Patientenverfügung ist nur dann ausreichend bestimmt, wenn sich feststellen lässt, in welcher Behandlungssituation welche ärztlichen Maßnahmen durchgeführt oder unterlassen werden sollen“, verwies Meier auf Urteile des Bundesgerichtshofs. Dementsprechend fragwürdig ist ihm zufolge, dass immer mehr Rechtsanwälte und Notare an Stelle von Ärztinnen und Ärzten Patienten beim Ausfüllen der Patientenverfügungen beraten. Grundsätzlich riet Meier Ärztinnen und Ärzten, sich bei problematischen Fragestellungen zum Patientenwillen im ersten Schritt an den Empfehlungen der Bundesärztekammer zu orientieren. „Sofern der Wille des Patienten bekannt ist, ist dieser auch in der Notfallsituation von allen Beteiligten zu beachten“, zitierte Meier. Die Bindung an den Patientenwillen gelte auch für nicht ärztliches Personal.

Ohne Wille kein Weg?

Die klinische Ethikberatung sei häufig spiegelbildlich zum Behandlungsteam organisiert, sagte Dr. Arnd T. May, Geschäftsführer des Zentrums für Angewandte Ethik in Erfurt. Ein Ethikteam bestehe aus Menschen mit einer medizinischen und einer pflegerischen Kompetenz sowie aus Vertretern der Rechtswissenschaften und der Ethik. Die Mindestbesetzung für ein klinisches Ethikkomitee in einer Ethik-Fallberatung liegt laut May bei vier Personen. Sie beraten das Behandlungsteam in ethischen Konfliktsituationen wie der Auslegung einer Patientenverfügung. Die Zusammensetzung des Teams hänge dabei auch von der Konfliktsituation ab, sagte May, der selbst klinische Ethikkomitees an zwei Universitätskliniken aufgebaut hat.

„Eine Anfrage ist die notwendige Bedingung, aber nicht die hinreichende für eine Ethik-Fallberatung“, sagte May. So ließen sich manche Konflikte bereits in einem Gespräch klären. Kommt es zu einer Ethik-Fallberatung, startet das Team mit der Faktenklärung. Dazu gehören Fragen wie: Was ist das Therapieziel? Wie lauten die Diagnose und Prognose? Wie ist die pflegerische Situation des Patienten? Daraus ergeben sich die Behandlungs- und Versorgungsoptionen, so May. „Erst dann beschäftigen wir uns mit dem Patientenwillen und besprechen diesen anhand ethischer Prinzipien.“ Grundsätzlich werde versucht, innerhalb von ein bis drei Tagen zu einer Behandlungsempfehlung zu kommen. In manchen Fällen sei es auch notwendig, innerhalb weniger Stunden ein Team zusammenzustellen. Die Beratung selbst dauere etwa eine Stunde. Manchmal hat eine Anfrage Mays Erfahrung nach auch mehr Zeit, als es zunächst den Anschein hat. Hier differierten subjektive und objektive Dringlichkeit, so der Ethikberater. 
 

„An unserer Klinik kam die Initiative für ein klinisches Ethik-Komitee aus der Neonatologie, denn hier sind ethische Grenzsituationen an sehr spezielle Gegebenheiten geknüpft“, so Privatdozentin Dr. Angela Kribs, Oberärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Köln. Die Schwierigkeit liege insbesondere darin, dass es sich bei Neugeborenen um nicht einwilligungsfähige Patienten handelt. „Es besteht zudem keine Möglichkeit, sich auf vorausgegangene Willensäußerungen zu stützen. Was man dann benötigt, ist ein solides Konstrukt, auf welches man zurückgreifen kann“, so Kribs. Ein Neugeborenes hat laut der Oberärztin volle Grund- und Menschenrechte und muss dementsprechend auch behandelt und gegebenenfalls therapiert werden. „Jedes Früh- und Neugeborene hat das Recht auf eine entsprechende Behandlung. Das Therapieziel ist aus den Bedürfnissen des Kindes heraus zu definieren. Die Eltern sind die Vertreter ihres Kindes. Auch ihre Autonomie muss respektiert werden“, sagte Kribs. Basis dafür müsse die Erhaltung des Lebens, der Schutz oder die Wiederherstellung der Gesundheit sowie die Abwägung des therapeutischen Nutzens gegenüber dem Behandlungsrisiko sein. Ein Verzicht auf Therapie könne erfolgen, wenn diese mit Blick auf das Wohl des Kindes aussichtslos erscheine.

„Der PEG-Anlage zur künstlichen Ernährung muss immer eine medizinische Indikation zugrunde liegen. Es handelt sich um einen einwilligungspflichtigen Eingriff“, sagte Dr. Sonja Vonderhagen, Oberärztin am Zentrum für Chirurgie an der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Essen. Es müsse immer ein realistisches Therapieziel geben. Zudem berge die PEG-Anlage auch einige Risiken. „Die Freude am Essen geht natürlich verloren. Außerdem kann der Automatismus des Gerätes dazu führen, dass die zu pflegende Person weniger Zuwendung erhält“, sagte die Unfallchirurgin. 

„Künstliche Ernährung ist sehr emotional behaftet.“

Eine PEG bedürfe wie jede medizinische Maßnahme einer ethischen und rechtlichen Legitimierung. Für die Sonderfälle Demenz und Wachkoma zeigten Studien zudem keine Verbesserung der Lebensqualität. „Ernährung ist ein Grundbedürfnis. Künstliche Ernährung ist deshalb sehr emotional behaftet“, so Vonderhagen. In der letzten Lebensphase sei eine sehr geringe Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme häufig bereits ausreichend. Es mache wenig Sinn, auf künstliche Ernährung zu setzen. „Wir wollen in dieser Phase nicht ernähren, sondern das Hunger- und Durstgefühl subjektiv stillen“, sagte Vonderhagen. Oftmals reichten dazu 500 Milliliter Flüssigkeit in 24 Stunden oder auch die Gabe von Eiswürfeln aus. 

Barbara Kertz, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Palliativmedizinerin im Palliativteam der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) in Köln unterschied: „Hilfe im Sterben widmet sich Menschen, die an einer nicht-heilbaren, fortschreitenden oder weit fortgeschrittenen Erkrankung leiden, die die Lebenserwartung auf Monate, Wochen oder sogar Tage begrenzt. Es geht bei dieser Art der Sterbebegleitung nicht darum zu heilen, sondern um die Verbesserung der Lebensqualität.“ Hilfe zum Sterben wiederum sei in aktive, passive oder indirekte Sterbehilfe zu unterteilen. Auch der unterstützte Suizid gehöre dazu. „Bei der passiven Sterbehilfe darf das Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Maßnahme ermöglicht werden, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht“, zitierte Kertz die Bundesärztekammer. Die Pflicht zur Basisbetreuung, also Körperpflege, Linderung belastender Symptome und Stillen von Hunger- und Durstgefühl sei selbstverständlich, so die Palliativmedizinerin. „Bei der indirekten Sterbehilfe geht es primär um eine medizinisch indizierte, schmerz- und symptomlindernde Behandlung eines Patienten im Endstadium der Behandlung“, sagte Kertz. Hierbei nehme man ein Lebensverkürzungsrisiko durch eine palliative oder auch terminale Sedierung oder Beruhigung bis hin zur Bewusstseinsausschaltung in der Finalphase einer Krankheit in Kauf. 
 

Die Vorträge der Referentinnen und Referenten finden Sie auf der Homepage der Ärztekammer Nordrhein zum Herunterladen unter www.aekno.de/wissenswertes/dokumentenarchiv.

Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung sowie weitere Informationen und Hinweise zum Thema finden Sie auf www.baek.de in der Rubrik Ärzte und Medizin und Ethik.