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„Lassen Sie sich nicht provozieren“

25.09.2019 Seite 18
RAE Ausgabe 10/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 10/2019

Pöbelnde Patienten, aggressive Angehörige, wutentbrannte Wartende – Ärztinnen und Ärzte sehen sich und ihr Team zunehmender Gewalt ausgesetzt. Bereits 2018 forderten die Delegierten des 121. Deutschen Ärztetages, Schulungen und Kurse mit Deeskalationsmethoden anzubieten. Eine Fortbildung in Düsseldorf griff diese Forderungen auf und stellte zugleich Präventionsstrategien für Praxis und Notaufnahme vor. 

von Vassiliki Latrovali

Man sollte meinen, in den Arztpraxen der Bundesrepublik gehe es recht beschaulich zu. Man stelle sich vor, es sei ein gewöhnlicher Montagmorgen – ein kalter, verregneter Herbsttag. Die meisten Patienten sitzen wohl mit einem viralen Infekt oder einer Grippe in der Praxis ihres Hausarztes. Manche sind routinemäßig zur Blutabnahme da, andere brauchen nur ein Rezept für ihre Medikation. Der Warteraum ist ruhig, die Patienten blättern in den ausliegenden Zeitschriften. Klingt eigentlich friedlich, ist es aber oft nicht. In den letzten Jahren häufen sich die Übergriffe auf Ärztinnen, Ärzte und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Doch nicht nur in Praxen scheint es immer häufiger zu eskalieren, auch in den Kliniken spricht man von alarmierenden Entwicklungen. 
 

Gewaltbereitschaft und sozialer Status

Im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf nahmen Mitte September 45 Ärztinnen und Ärzte an der Fortbildungsveranstaltung „Wie begegne ich Gewalt in der Praxis und in der Notaufnahme?“ des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) teil. Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit klaren Worten: „Wenn selbst diejenigen angegriffen werden, die helfen und Leid lindern wollen, dann wird deutlich, dass sich in der Gesellschaft einiges grundlegend verändern muss.“ Rettungskräfte, Ärzte und andere medizinische Berufsgruppen würden bereits seit Jahren massiv an ihrer Arbeit gehindert und seien einem extrem hohen Gewaltpotenzial ausgesetzt. Auch Übergriffe in Praxen seien heutzutage keine Seltenheit mehr. „Viele Kolleginnen und Kollegen sprechen von schwindendem Respekt und einem gestiegenen Anspruchsdenken der Patienten. Der Umgangston an den Anmeldungen hat sich vielerorts drastisch verschärft“, so Bergmann. Die Datenerhebungen des „Ärztemonitors 2018“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zeigten, dass im Rheinland jeder vierte Arzt in seinem Berufsleben bereits körperliche Gewalt erfahren hat.
Privatdozentin Dr. Christiane Montag, Leitende Oberärztin und Leiterin des Fachbereichs Psychotische Erkrankungen an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im Sankt Hedwig-Krankenhaus in Berlin, berichtete von ihren Gewalterfahrungen in der Psychiatrie: „In der psychiatrischen Arbeit sind wir mit aggressivem Verhalten von Patientinnen und Patienten vertraut. Angriffe auf Mitarbeiter und Mitpatienten sind häufig aus dem inneren Erleben eines Patienten zu erklären, zum Beispiel durch Angst im Rahmen eines Verfolgungswahns, und zu verhindern.
 

Praxis und Klinik besser gestalten

•    Dunkle, enge Praxen/Stationen können beklemmend wirken
•    Setzen Sie auf eine offene Raumgestaltung (Trennwände aus Glas lassen Räume größer wirken) 
•    Blau-, Grau-, Rosa- und Grüntöne wirken beruhigend (Wandgestaltung, Team-Kleidung)
•    Sorgen Sie für ausreichend Privatsphäre (z. B. Diskretion am Empfang, Rückzugsorte für stillende Mütter)
•    Trennen Sie Patienten- und Mitarbeiterbereiche (Farben, Pfeile, Schilder, Bepflanzung)
•    Sparsame Dekoration am Empfang (alles kann zur Waffe werden)
•    Medikamentenschränke immer außer Sichtweite der Patienten aufstellen (bei Platzmangel: abschließbare Schiebetüren)
•    Sorgen Sie für Fluchtwege für sich und Ihre Mitarbeiter (alternativ: von innen abschließbare Räume)
•    Teilen Sie auch die Behandlungszimmer klar auf (Arzt- und Patientenseite)


Fortbildungsveranstaltung des IQN vom 21. August 2019
 

„Allerdings verzeichnen auch wir einen Anstieg aggressiver Übergriffe in der Klinik“, erläuterte Montag. Auf der Suche nach Faktoren, die Aufschluss über ein mögliches Gewaltrisiko geben, zeigten Studien, dass die Angriffe vor allem von jungen, männlichen Patienten ausgingen, die einen erhöhten Drogenkonsum und psychotische Symptome aufwiesen. Auch Gewalt- und Kriminalitätserfahrungen in der Kindheit spielten eine Rolle.
Interne Untersuchungen aus dem letzten Jahr zeigten hingegen, dass aggressive Übergriffe im stationären Setting zudem vom Bildungsniveau und der Wohnsituation der Patienten abhingen, und bei unfreiwilligen Aufenthalten häufiger vorkamen. Sprachbarriere, Migrationshintergrund und aktuelle Migrationserfahrung spielten hingegen keine Rolle.
Doch nicht nur die potenziellen Täter, auch die Umgebung, das sogenannte Setting, seien für die Untersuchung der Gewaltbereitschaft in Praxis und Klinik von Bedeutung. „Studien zeigen, dass fehlende Privatsphäre und Überbelegung einer Station sich bereits negativ auf das Verhalten von Patienten auswirken können. Sogar Hitze fördert Aggressivität. Außerdem zeigen Erfahrungen, dass Menschen größere Hemmungen haben, etwas zu zerstören, was ästhetisch schön ist“, so Montag.

Prävention bedeutet Aufmerksamkeit

Schilder, Linien, Pfeile – manchmal könnten selbst einfache Dinge helfen, professionelle Distanz zwischen dem Team und den Patienten zu wahren. Dr. Vasiliki Böllinghaus-Nikolaou, Referentin am IQN, Referentin des IQN, griff den Gewaltpräventionsfaktor „Arztpraxisgestaltung“ mit Hilfe der englischsprachigen Broschüre General practice – A safer place. A guide for the prevention and management of patient-initiated violence auf. So empfehlen die Verfasser der Broschüre ausreichend hohe und tiefe Empfangstische und die Einplanung von möglichen Fluchtwegen in den Behandlungsräumen. Wer am Empfang berichten soll, was ihm fehlt, möchte die Mitpatienten nicht als Zuhörer“, so Böllinghaus-Nikolaou. Laut Broschüre sei es zudem von Vorteil, den Patienten Zeitschriften und Getränke anzubieten. Längere Wartezeiten sollten in jedem Fall freundlich angekündigt werden. „Wenn Sie und Ihr Team sich trotz aller Maßnahmen mit einer Gewaltsituation konfrontiert sehen, sollte jeder wissen, was er zu tun hat. Ein solider Notfallplan ist von großer Bedeutung“, betonte die Referentin. 
 

Präventionsstrategien für Praxis und Klinik

•    Setzen Sie auf Verständnis und Empathie (Team und Patienten)
•    Freundliches Auftreten aller Kolleginnen und Kollegen
•    Respektieren Sie Sichtweise und Weltanschauung Ihrer Patienten (entwickeln Sie ein kulturelles Bewusstsein)
•    Halten Sie Augenkontakt mit Ihren Patienten
•    Schulungen und Fortbildungen für Sie und Ihre Mitarbeiter (Notfallplan, Vorbereitung)
•    Formulieren Sie klare Regeln für den Polizeiruf (wann, wer, wie)
•    Zwingen Sie niemanden zu unerwünschten Aktivitäten 
•    Setzen Sie auf offene Kommunikation


Fortbildungsveranstaltung des IQN vom 21. August 2019
 

Dies befürwortete auch Peter Werkmüller, Kriminalhauptkommissar am Polizeipräsidium in Düsseldorf. Er riet den Workshop-Teilnehmern in gefährlichen Situationen nicht unbedacht zu handeln: „Spielen Sie nicht die Helden! Wenn etwas in Ihrer Praxis oder der Klinik passiert, alarmieren Sie die Polizei und erstatten Anzeige.“ Werkmüller betonte, dass es kein „Universalrezept“ für Gewaltprävention gebe, man müsse oft situationsbedingt handeln. Ärztinnen, Ärzte und ihr Team sollten in jedem Fall aufmerksam sein und Patienten, die sich seltsam verhalten, im Auge behalten. „Verweigert der Patient absichtlich den Gruß, schaut er schon am Empfang mürrisch und flucht, obwohl das Team ihn freundlich begrüßt, oder duzt er Sie und Ihre Mitarbeiter, können das durchaus erste Alarmzeichen sein“, erläuterte der Kommissar. Gewalt könne sich auch gegen Gegenstände richten. Hierbei sei zu beachten, dass vorsätzliche Sachbeschädigung bereits als Straftat gelte. „Gewaltprävention beginnt ganz klar schon beim Einrichten der Praxis oder Klinik. Sie können die Räume mit Videokameras bestücken, eventuell auch schon an der Gegensprechanlage, falls Sie alleine arbeiten. Trennen sie auf jeden Fall die Bereiche für das Team und die Patienten konsequent ab“, sagte Werkmüller. Bei unangenehmen Patienten sollte man Distanz bewahren und selbstbewusst auftreten. „Lassen Sie sich nicht provozieren und wenden Sie keine Gegengewalt an, außer es handelt sich um Notwehr“, betonte Werkmüller. Man könne sich durchaus einen Sicherheitsdienst zur Hilfe holen, wichtiger sei es aber, den Notfallplan mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu üben, damit deutlich werde, wo Nachholbedarf sei. Ärzte und Mitarbeiter, die Gewalt am Arbeitsplatz erlebt haben, sollten wissen, dass sie als Opfer einer Straftat ein Recht auf Hilfe und Schutz haben. In vielen Fällen, so der Kommissar, sei eine therapeutische Betreuung notwendig.

Nach dem Vorfall ist vor dem Vorfall

Engelbert Schödder, Berufsfeuerwehrmann und Fachberater für Psychotraumatologie des psycho-sozialen Unterstützungsteams (PSU) in Köln, betreut seit 1997 Einsatzkräfte, die belastende Situationen aus ihrem Arbeitsalltag nicht ohne Hilfe verarbeiten können. „Gewaltsituationen werden von jedem Menschen anders empfunden, nicht jeder benötigt danach eine Therapie“, so der Fachberater. Doch wenn das Erlebte einem zu schaffen mache, müsse man sich dies erst einmal selbst eingestehen. „Achten Sie nach gewalttätigen Übergriffen auf verändertes Verhalten der betroffenen Kollegen und Mitarbeiter. Posttraumatischer Stress äußert sich bei jedem Menschen anders. Als Praxisinhaberin oder inhaber und Vorgesetzter haben Sie die Verantwortung“, betonte Schödder. Man solle in jedem Fall das Gespräch suchen und die betroffene Person auf professionelle Hilfe aufmerksam machen. „Bei vielen Menschen können bereits aggressive verbale Attacken zu Traumata führen, es ist daher wichtig, ein offenes Ohr für die Probleme seiner Mitarbeiter zu haben und diese ernst zu nehmen“, so der Berufsfeuerwehrmann. Meist seien nicht mehr als fünf bis sechs Therapiesitzungen nötig, um ein einmaliges Gewalterlebnis komplett zu verarbeiten.
 

Deeskalationsmethoden für Praxis und Klinik

•    Es gilt: Ruhe bewahren!
•    Sichern Sie alle Unbeteiligten ab
•    Halten Sie sich an den Notfallplan (um keine Panik auszulösen und schnell zu handeln)
•    Versuchen Sie den Tonfall Ihrer Stimme zu regulieren 
•    Nutzen Sie bevorzugt nonverbale Kommunikation (achten Sie hierbei auf Ihre Mimik)
•    Falls nötig, geben Sie Fehlbarkeit und Versäumnisse zu (lange Wartezeiten, zu wenig Personal)
•    Vermeiden Sie einen Solidarisierungseffekt der Mitpatienten (ruhiger Raum)
•    Ermöglichen Sie Kompromisse


Fortbildungsveranstaltung des IQN vom 21. August 2019