Nach dem jüngsten Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) muss eine Klinik für die geschockte Ehefrau des Patienten einstehen. Die Ehefrau verklagte die Klinik auf Schadenersatz.
von Dirk Schulenburg und Katharina Eibl
Die von der Rechtsprechung zum „Schockschaden“ entwickelten Grundsätze sind auch anzuwenden, wenn das haftungsbegründende Ereignis kein Unfallereignis, sondern eine fehlerhafte ärztliche Behandlung war.
Die Folgen eines ärztlichen Behandlungsfehlers können für die Angehörigen des Patienten einen Schock darstellen, der zu einem Schmerzensgeldanspruch führt. Eine Rechtfertigung dafür, die Ersatzfähigkeit von „Schockschäden“ im Falle ärztlicher Behandlungsfehler stärker einzuschränken als im Falle von Unfallereignissen, besteht grundsätzlich nicht (BGH, Urteil vom 21. Mai 2019, AZ: VI ZR 299/17).
Klage wegen psychischer Beeinträchtigung
Der Patient ließ in dem beklagten Krankenhaus eine Koloskopie mit Polypektomie durchführen. Anschließend wurde eine (schicksalhafte) Darmperforation festgestellt. Es kam zu einer Peritonitis. Nach erfolgloser konservativer Therapie wurde sechs Tage nach der Koloskopie im Stadium der Entzündung grob fehlerhaft eine Laparotomie durchgeführt.
Der Patient befand sich über mehrere Wochen in Lebensgefahr.
Die Ehefrau machte gerichtlich in eigenem Namen die Entschädigung eines „Schockschadens“ geltend. Sie habe dadurch, dass ihr Mann mehrere Wochen in Lebensgefahr geschwebt habe, massive psychische Beeinträchtigungen in Form eines depressiven Syndroms erlitten. Die beiden Vorgerichte wiesen die Klage ab. Der BGH entschied, dass der Anspruch grundsätzlich bestehe.
Materieller und immaterieller Schaden
Stellt ein Gericht einen Behandlungsfehler fest, ist der Arzt beziehungsweise das Krankenhaus dem Patienten zum Ersatz des daraus resultierenden Schadens verpflichtet. Hierbei kann es sich um materiellen Schaden oder um immateriellen Schaden handeln.
Der materielle Schaden ist begrifflich identisch mit dem Vermögensschaden. Er liegt vor, wenn der Schaden in Geld messbar ist. In Geld messbar ist ein Schaden, wenn sich dessen Höhe im Wesentlichen nach objektiven Kriterien und frei von subjektiven Empfindungen des jeweiligen Betroffenen bestimmen lässt.
Immaterielle Schäden sind hingegen körperliche oder seelische Belastungen beziehungsweise alle Nachteile außerhalb von Vermögensdispositionen. Sie werden durch subjektive Empfindungen und Wertvorstellungen bestimmt. Dazu gehört die Lebensfreude des einzelnen Menschen, der Einfluss auf die Tätigkeit in der Freizeit und auch der Verlust der Fähigkeit zu einer nicht wirtschaftlichen Beschäftigung. Über einen Markt mit objektiven, gegebenenfalls objektivierbaren Kriterien lässt sich dazu nichts messen.
Die Unterscheidung ist wichtig, denn: Bei Vermögensschaden kann der Geschädigte bei Verletzung seiner Person oder Beschädigung einer Sache statt Naturalherstellung Ersatz in Geld verlangen (§ 249 Abs. 2, S. 1 BGB). Für immaterielle Schäden hingegen kann nur dann eine Entschädigung in Geld gefordert werden, wenn das Gesetz dies explizit anordnet (insbesondere Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB).
Schockschaden
Psychische Beeinträchtigungen, die jemand infolge eines Unfalltodes oder einer schweren gesundheitlichen Beeinträchtigung eines nahen Angehörigen erleidet, können eine Gesundheitsverletzung nach § 823 Abs. 1 BGB darstellen, die als immaterieller Schaden über die Zahlung von Schmerzensgeld ausgeglichen werden kann. Dies ist in der Rechtsprechung schon lange anerkannt.
Bei diesen sogenannten Schockschäden verfolgt die Rechtsprechung allerdings eine relativ restriktive Linie. Ein Schadensersatzanspruch hat nach der Rechtsprechung drei Voraussetzungen.
- Schwere Beeinträchtigung: Die Gesundheitsbeeinträchtigung muss pathologisch fassbar sein und nach Art und Schwere deutlich über das hinausgehen, was Nahestehende als mittelbar Betroffene in derartigen Fällen erfahrungsgemäß an Beeinträchtigung erleiden.
- Nur nahen Angehörigen des Toten oder Verletzten steht der Anspruch zu.
- Ausreichender Anlass: Der Schock muss im Hinblick auf seinen Anlass verständlich sein.
Schockschaden auch bei ärztlichem Behandlungsfehler
Der BGH hat nunmehr entschieden, dass eine Rechtfertigung dafür, die Ersatzfähigkeit von Schockschäden im Falle ärztlicher Behandlungsfehler weiter einzuschränken als im Falle von Unfallereignissen, grundsätzlich nicht bestehe. Die Voraussetzungen für die Ersatzfähigkeit eines Schockschadens würden vorliegen.
Psychische Folgeschäden müssten deutlich über die beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen üblichen psychischen Beeinträchtigungen hinausgehen. Dies sei hier der Fall gewesen. Auch die erforderliche Nähe zwischen dem ursprünglich Geschädigten und dem Schockopfer sei gegeben. Wie bei Unfällen genüge daher eine „hinreichende Gewissheit“, dass die psychischen Schäden der Ehefrau auf die „Verletzungshandlung“ gegenüber dem Patienten zurückgehen würden. Auch setze der Anspruch nicht grundsätzlich den Tod eines nahen Angehörigen voraus.
Ob der behandlungsfehlerbedingt akut lebensgefährliche Zustand des Patienten tatsächlich kausal für die psychische Beeinträchtigung der Klägerin war, hatte das Oberlandesgericht Köln offen gelassen. Daher hat der BGH die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Dr. iur. Dirk Schulenburg, MBA, MHMM, ist Justiziar der Ärztekammer Nordrhein und Katharina Eibl, Fachanwältin für Medizinrecht, ist Referentin der Rechtsabteilung.