„Warum unser Gesundheitssystem humanitäre Werte braucht“ lautete das Thema des 13. Medizinethischen Forums der Bezirksstelle Düsseldorf der Ärztekammer Nordrhein und des ASG-Bildungsforums Düsseldorf am 13. September. Für den Gastreferenten, Professor Dr. Giovanni Maio, M. A. phil., Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin in Freiburg, gab es auf diese Frage eine klare Antwort: „Weil sich die Medizin ohne Bewusstsein ihrer sozialen Werte von ihrer Kernidentität entfernt.“
von Sabine Schindler-Marlow
Die Folgen eines durchökonomisierten Gesundheitssystems werden seit langer Zeit kritisch in der Ärzteschaft und mehr und mehr auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Für viele Patienten und Ärzte ist es täglich wahrnehmbar: die zunehmende betriebswirtschaftliche Durchdringung der Medizin ändert nicht nur die Rahmenbedingungen ärztlicher Berufsausübung, indem sie die Unabhängigkeit und Eigenverantwortung des Arztes in Frage stellt. Sie hat auch das Potenzial, dauerhaft und irreparabel das Arzt-Patientenverhältnis zu schädigen. Je mehr das System die Ärzte zwingt, nicht nur das Wohl des Patienten, sondern auch die Optimierung der Erlöse stets im Blick zu behalten, desto mehr besteht die Gefahr einer Erosion des öffentlichen Vertrauens in das Medizinsystem. Doch wie kann sich die Medizin und letztendlich auch die Gesellschaft des Schadens erwehren, der ihr durch die Ökonomisierung und Industrialisierung des Gesundheitswesens droht?
Verlust der Identität
Der Medizinethiker Maio forderte in seinem Gastvortrag im Haus der Ärzteschaft eine Rückbesinnung der Medizin auf Tugenden wie Sorgfalt, Geduld und Reflektiertheit sowie Zuwendungsbereitschaft und Respekt vor der Einzigartigkeit des Individuums. Je mehr solcher zwischenmenschlichen Werte in der Medizin verloren gingen und nur noch produktionstechnische Anreize für ein möglichst reflexionsfreies, stromlinienförmiges und simplifizierendes Vorgehen vorherrschten, desto größer sei die Gefahr, dass die Medizin auf Dauer nicht mehr als soziale Praxis erkennbar bleibe und stattdessen zu einer entmenschlichten Durchschleusungsmedizin verkomme.
Das berechtigte Anliegen von Ärztinnen und Ärzten, die sich bewusst für den Arztberuf entschieden hätten, um Menschen zu helfen, werde unter dem ökonomischen Diktat der Konsolidierung der Bilanzen immer mehr zur Nebensache, sagte Maio. Durch die Abhängigkeit der Kliniken von den Erlösen werde alles, was Ärzte tun, nicht mehr primär von der konkreten Bedeutung für den Patienten, sondern in starkem Maße unter dem Gesichtspunkt der Erlösrelevanz betrachtet. Das sei nichts anderes als eine sukzessive Umdeutung des medizinischen Handelns hin zu einer monetarisierten Verwertung ärztlichen Könnens. Eine solche Kapitalisierung ärztlichen Handelns laufe dem eigentlichen Sinn der Medizin zuwider. „Die Aufgabe der Medizin ist es, Antworten auf die Not von Patienten zu finden. Und diese Antworten finden wir nur in der Begegnung mit dem Patienten. Um in der Medizin eine gute Qualität zu erreichen, ist es notwendig, den objektiven Befund im Lichte der Lebenswelt des Patienten betrachten zu lernen. Um diese Qualität zu erreichen, brauchen Ärztinnen und Ärzte Zeit zum Gespräch, zur Reflektion, zur Sorgfalt, und sie brauchen vor allem die innere Freiheit, sich wirklich auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten einlassen zu können.“
Der aktuelle Medizinbetrieb lasse aber, so Maio, die Zeit für ein solches reflexives und individuelles Herangehen nicht zu. Die Reflexion als Bindeglied zwischen Diagnose und Therapie mache die eigentliche Leistung der Ärzte aus; es sei eben die gute Indikation, die die eigentliche ärztliche Könnerschaft abbilde, aber diese eigentliche Leistung der Ärzte werde vom System gar nicht mehr gesehen. Die Anreize seien so, dass die Ärzte dazu angehalten würden, so reflexionsfrei wie möglich aus der Diagnose geradezu automatisch zum Therapieschritt zu gelangen, damit alles reibungslos ablaufen könne. Die Ärzte würden vom System zur Umsetzung einer Handreichungslogik angehalten. Dabei werde übersehen, dass man durch eine solche automatisierte Vorgehensweise die eigentliche Wissenschaftlichkeit der Medizin, die in der verlässlichen Beurteilung des Einzelfalls liege, gar nicht mehr zum Zuge kommen lässt. Um dem Patienten gerecht zu werden, genüge es nicht, algorithmisch vorzugehen, sondern es bedürfe eines verständigungsorientierten Handelns, erklärte Maio. „Erst die Reflektion als unabdingbarer Zwischenschritt zwischen Diagnose und Behandlung erlaubt es, aus den vielfältigen therapeutischen Möglichkeiten diejenigen auszuwählen, die nicht nur richtig, sondern auch passend für den Patienten sind.“
Der wissenschaftliche Schritt in der Medizin bestehe in der gekonnten Synthese unterschiedlicher Wissensformen, wodurch das theoretische Sachwissen mit dem praktischen Handlungswissen verbunden werde. Nur so könne man zu einer guten Therapieempfehlung gelangen, die eben gerade dann wissenschaftlich solide sei, wenn sie die Individualität des Patienten ausreichend in Betracht gezogen habe.
Künstliche Intelligenz ist kein Arztersatz
Maio zufolge kann daher Künstliche Intelligenz (KI) den Arztberuf in Zukunft nicht ersetzen. Denn eine Maschine könne grundsätzlich nur mathematische Modelle umsetzen, also nur kalkulieren, sie sei aber nicht in der Lage, den einzelnen Patienten in seiner Individualität zu verstehen und die Behandlung danach auszurichten. KI mache auf dem Boden mathematischer Modelle eine Automatisierung von Entscheidungen zum Prototyp der Problemlösung. Automatisiert vorzugehen heiße aber nichts anderes, als unberaten vorzugehen. Maio warnte daher vor einer Medizin, die sich nur noch auf die KI verlässt, die den Menschen wie eine Maschine abscannt und ihn danach repariert. Würde man die Medizin allein der KI überlassen, folge ein Reduktionismus, den sich kein Patient wirklich wünschen könne. „Medizin geht nicht auf in mathematischen Modellen. Sie braucht kalkulatorische Vernunft genauso wie emotionale und soziale Intelligenz – und das ist etwas ganz anderes als künstliche ‚Intelligenz‘.“ KI könne daher lediglich eine Unterstützung für den Arzt sein, aber nicht dessen Ersatz, so Maio.
Werte in der Medizin
„Nicht ohne Grund ist der Arztberuf ein freier und gemeinwohlorientierter Beruf, dessen Besonderheit in der Ausrichtung auf das Patientenwohl liegt“, bekräftigte Maio. Deshalb sollten Ärztinnen und Ärzte trotz aller ökonomischer Überformungstendenzen, die auch durch die Digitalisierung verstärkt würden, dafür kämpfen, sich Werte wie Reflexivität, Geduld und Zwischenmenschlichkeit zu erhalten. „Denn das Erfüllende am Arztberuf ist das Bewusstsein, etwas Sinnvolles zu tun und dazu beizutragen, dass sich der kranke Mensch besser fühlt“, so Maio. Gehe dieses sinnstiftende Element des Arztberufes zugunsten eines angeordneten Aktionismus mit dem Ziel der Produktionssteigerung im „Medizinbetrieb“ verloren, komme es zu einer zunehmenden Entfremdung der Ärztinnen und Ärzte von ihrem täglichen Tun.
Nicht ohne ethischen Kompass
Maio rief die anwesenden Ärztinnen und Ärzte daher auf, innezuhalten, den Kompass der inneren Werte wieder auf eine Ethik der Sorge für den Patienten auszurichten und sich gegen eine stromlinienförmige, schnelle und beziehungsarme Durchschleusung von Patienten zu wehren. Gemeinsam sollten sich alle Ärztinnen und Ärzte für den Erhalt des genuin sozialen Gehalts der Medizin einsetzen, sagte er. Denn auf politischer Seite herrsche der Irrglaube, dass das soziale System langfristig nur zu retten sei, wenn es rein marktwirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen werde. So geschehe unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Effizienzsteigerung nichts anderes als ein sukzessiver Abbau des Sozialen. „Doch ohne einen ethischen Kompass in der Medizin geht es nicht“, sagte Maio. Die Kammern sieht er in der Pflicht, die Ärztinnen und Ärzte in diesem Prozess der Rückbesinnung auf die sozialen Werte in der Medizin zu stützen und einen gesellschaftlichen Konsens über die Grundausrichtung und die dazu benötigten Rahmenbedingungen herzustellen. Dass Ärztinnen und Ärzte für eine soziale und damit zwischenmenschliche Medizin stehen, sollten die Ärzte mit Rückgrat vertreten und sich nicht in die Defensive drängen lassen, forderte Maio.