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Interview

„Es gibt viel Storytelling über das, was Patienten angeblich wollen“

25.04.2019 Seite 28
RAE Ausgabe 5/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2019

Seite 28

Die Ausgabenentwicklung für Arzneimittel ist für viele Ärzte Grund zur Ärgernis. Diese Entwicklung zumindest bremsen soll die Arbeit des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), dessen Leiter Professor Dr. Jürgen Windeler ist. © IQWIG

RhÄ: Herr Windeler, wie fällt ihr bisheriges Fazit zur Nutzenbewertung neuer Arzneimittel aus, wie sie 2011 mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) eingeführt wurde?
Windeler: Die systematische Nutzenbewertung neu zugelassener Arzneimittel war eine gute Idee. Alle Beteiligten – auch die Pharmazeutische Industrie – haben sich inzwischen an das AMNOG-Verfahren gewöhnt. Die Qualität der verpflichtend einzureichenden Herstellerdossiers war von Anfang an nicht schlecht und hat sich weiter verbessert. Die meisten Dossiers sind sehr aussagestark. Sie bilden eine gute Grundlage für die frühe Nutzenbewertung. Es ergeben sich allerdings immer wieder Probleme daraus, dass für die klinischen Studien eine Vergleichstherapie gewählt wurde, die nicht den Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses entspricht. So werden oft indirekte Vergleiche gezogen, um Aussagen zu treffen.

RhÄ: Eben haben Sie aber doch lobend erwähnt, dass die Dossiers brauchbar sind. Und dann vergleichen die Hersteller Äpfel mit Birnen? Schließt sich das nicht aus?
Windeler: Das schließt sich nicht aus, weil aus den Dossiers ja gerade hervorgeht, dass der Hersteller Äpfel mit Birnen verglichen hat. Man kann mit den Dossiers also etwas anfangen, sie erhalten alle für uns relevanten Informationen.

RhÄ: Ein dialektisches Lob also?
Windeler: Genau. Das Bild, das sich aus den Dossiers ergibt, ist nicht immer positiv. Aber: Das Verfahren ist transparent. Die Befürchtung, dass uns die Unternehmen Daten oder Studien vorenthalten, hat sich im Bereich der Arzneimittel nicht bewahrheitet. Das kann man klar so sagen.

RhÄ: Bislang hat das IQWiG 300 Dossiers bewertet. Wie ist mit Blick auf den Zusatznutzen das Zwischenfazit?
Windeler: Bei knapp der Hälfte der bewerteten Wirkstoffe haben wir einen Zusatznutzen gesehen. In unseren Kategorien ‚beträchtlich‘ und ‚erheblich‘ landen etwa 25 Prozent der zur Nutzenbewertung eingereichten Medikamente.

RhÄ: Wie viel steckt denn an Innovationen in den Pipelines der Pharmahersteller?
Windeler: Dieses Jahr rechnen wir mit 90 Dossierbewertungen, nach 60 im vergangenen Jahr und 45 im Jahr 2017. Insofern ist hier schon Dynamik drin, unser Workload steigt jedes Jahr spürbar. Allerdings muss man auch sagen, dass es bei den Aufträgen häufig nicht um neue Medikamente, sondern um die Erweiterung des Indikationsbereichs geht.

RhÄ: In einer Ihrer Mitteilungen heißt es: ‚Medikament XY verlängert das Überleben‘. In der Zeile darunter steht: ‚Nur wenige Studienteilnehmer zulassungskonform behandelt, daher Ausmaß des Zusatznutzens nicht quantifizierbar‘. Ist das die Regel?
Windeler: Der erste Satz drückt zunächst einmal aus, dass es in der Tat eine Reihe von Medikamenten gibt, die das Überleben verlängern. Jetzt könnte man lange darüber streiten, ab wie vielen Tagen eine Überlebensverlängerung relevant ist, aber sie verlängern das Leben – und das statistisch bedeutsam. Der zweite Satz der Meldung zeigt, dass viele vorgelegte Studien nicht ganz auf unsere Fragestellung ausgerichtet sind: Es kann zum Beispiel sein, dass die gewählte Dosierung der zweckmäßigen Vergleichstherapie zu hoch oder zu niedrig war oder die Gabe über einen zu kurzen Zeitraum erfolgte. Oder das bisherige Standardpräparat, für das es eine europäische Zulassung gibt, sieht eigentlich andere Therapieanweisungen vor, zum Beispiel Therapiepausen. Da müssen wir uns natürlich Gedanken machen, wie wir damit umgehen. Bei diesem von Ihnen angesprochenen Beispielfall bewegen wir uns in der Mitte: Wir sagen, es handelt sich um einen relativ gravierenden Mangel, der zwar den Zusatznutzen nicht in Frage stellt, der es uns aber nicht erlaubt, diesen Nutzen in ‚beträchtlich‘ oder ‚erheblich‘ zu differenzieren. Diese Situation ist nicht untypisch.

RhÄ: Wie bewerten Sie die vorzeitige Zulassung von Medikamenten, also von Wirkstoffen, die noch keine Phase-3-Studien durchlaufen haben?
Windeler: Natürlich ist der Wunsch von Politikern und Patienten und Ärztinnen und Ärzten verständlich, neue Medikamente, die durchschlagende Erfolge verheißen, zügig für die Versorgung einsetzen zu können. Auf der anderen Seite gibt es in der Arzneimittelregulierung eine lange Tradition, sich sorgfältig für die Datenlage, die Unbedenklichkeit, Sicherheit und den Nutzen neuer Arzneimittel zu interessieren. Und für Medizintechnik gilt das eigentlich genau so. Hintergrund sind die Erfahrungen mit dem Medikament Contergan und daraus resultierend 1976 das Arzneimittelgesetz. Auch in Europa sollen aber die Anforderungen an Breakthrough-Medikamente für die vorzeitige Zulassung im Rahmen eines sogenannten ‚Adaptive Pathways‘ gesenkt werden. Verbunden damit ist naturgemäß eine höhere Unsicherheit bezüglich des Wirkstoffs. Natürlich können Patienten sagen: Wir gehen diese Unsicherheit ein. Aber man sollte die Patienten dann auch deutlich darüber aufklären.

RhÄ: Aber der Patient greift nun einmal nach dem ‚letzten Strohhalm‘.
Windeler: Ja, das sagt man immer so. Ob das für die Patienten en gros und immer gilt, insbesondere wenn sie gründlich aufgeklärt worden sind, da bin ich mir nicht so sicher. Es ist auch nicht klar, ob sich die Patienten viel mehr oder andere Dinge versprechen, als die Wirkstoffe halten können. Es gibt viel Storytelling über das, was Patienten angeblich wollen.

RhÄ: Was sind für Sie harte Endpunkte?
Windeler: Alle Endpunkte, die für den Patienten spürbare gesundheitliche Veränderungen bedeuten.

RhÄ: Also nicht nur das Überleben?
Windeler: Nein, absolut nicht. Im Gegenteil. Ich bemühe noch einmal das Bild vom Strohhalm, also die Hoffnung der Patienten, mit der Einnahme von Medikamenten zusätzliche Überlebenszeit zu gewinnen. Manchmal ist es sinnvoller, in der Zeit, die noch bleibt, auf Methoden und Verfahren zu setzen, die die Lebensqualität verbessern anstatt ein lebensverlängerndes Medikament einzunehmen, das sehr schwere Nebenwirkungen auslöst.

RhÄ: Wie lässt sich ein Wirkstoff-Breakthrough von Zufall oder Placebo abgrenzen?
Windeler: Stellen Sie sich eine Patientengruppe vor, deren Mitglieder laut Prognose bei Behandlung mit der bisherigen Standardtherapie innerhalb eines Jahres an ihrer Erkrankung sterben. Wenn nun mehrere Patienten dieser Gruppe dank des neuen Wirkstoffs zwei oder drei Jahre länger leben als prognostiziert und Sie zugleich sicher sind, dass die Diagnose stimmt und der Wirkmechanismus des neuen Medikamentes nachvollziehbar ist, dann scheint an dem neuen Wirkstoff doch etwas dran zu sein. Natürlich machen vier Patienten noch keinen Sommer. Aber wir würden dann auch nicht verlangen, dass man hier erst einmal 20 Jahre weiter Untersuchungen anstellen muss, ehe andere Patienten mit dem Wirkstoff versorgt werden sollten. Wir sprechen in solchen Fällen von einem ‚dramatischen Effekt‘, der jenseits aller Erwartungen liegt.

Das Interview führte Bülent Erdogan.