Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erhöht derzeit mit immer neuen Gesetzentwürfen die Betriebstemperatur der Ärzteschaft. Die ist noch mit der Umsetzung und den Auswirkungen der Vorgaben aus dem Termin-Servicegesetz (TSVG) beschäftigt. Die Stimmung auf der Vertreterversammlung (VV) der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO) am 14. Juni 2019 pendelte zwischen Pragmatismus und Kritik an Spahns Übereifer.
von Heiko Schmitz
Dass der Gesetzesmarathon auch die Vertreterversammlung vor der Sommerpause prägen würde, war keine Überraschung. Die Kritik daran auch nicht. Sie kam unter anderem in einem Antrag zum Ausdruck, der – anschließend an einen Beschluss des Ärztetags in Münster – „Gängelungen und Bevormundungen“ freiberuflicher Ärztinnen und Ärzte in den Gesetzgebungsverfahren der Bundesregierung missbilligt. Die Vertretung der nordrheinischen Ärzteschaft appelliert darin an den Gesetzgeber, auf Eingriffe in die Praxisorganisation, Strafandrohungen und weitere Belastungen wie beim TSVG zu verzichten.
Doch die sind vorprogrammiert, etwa beim Faire-Kassenwahl-Gesetz (GKV-FKG), bei dem es durch den Widerstand einiger Bundesländer Nachbesserungsbedarf gibt. Der betrifft aber nicht den aus Sicht der KVen wesentlichen Punkt: Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, Zuschläge für Disease-Management-Programme (DMP) aus dem Risikostrukturausgleich für die Kassen zu streichen. „Das ist überhaupt nicht fair, auch wenn das Gesetz die Fairness im Namen trägt“, betonte KVNO-Vize Dr. Carsten König. Die DMP zeigten enormes Potenzial bei der Erreichung von Qualitätszielen, bei der Vernetzung der haus- und fachärztlichen Versorgung und bei der Schulung der Patientinnen und Patienten. „Allein in Nordrhein nehmen 6.500 Ärzte daran teil. Fast eine Million Menschen profitieren hier von dem höheren Behandlungsniveau. Das muss so bleiben“, forderte König.
Auch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) hat aus Sicht der KVNO Schwachstellen: „Es öffnet den Kassen Tür und Tor für eine alleinige Steuerung der Versorgung. Wir müssen an einer digitalen Versorgungsstruktur mitwirken, denn nur wir verfolgen medizinische und nicht primär ökonomische Interessen, auch der Patientinnen und Patienten.“ Die Ausgestaltung der Digitalisierung sei Kernaufgabe des KV-Systems – „mit Mitteln, die uns die Politik dafür zur Verfügung stellen muss“, betonte KVNO-Vorstandsvorsitzender Dr. Frank Bergmann.
Beim TSVG, das seit 11. Mai in Kraft ist, zeigt sich die KVNO pragmatisch. „Nachdem wir das komplexe Gesetz lange und umfänglich kritisiert und auch beeinflusst haben, müssen wir jetzt in den Modus der Umsetzung schalten“, sagte Bergmann. Zum Zeitpunkt der VV war noch vieles ungeklärt, insbesondere bei der zusätzlichen Vergütung der geforderten Mehrarbeit. Erst Ende Juni vermeldete die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Einigung mit dem GKV-Spitzenverband über die Eckpunkte zur Vergütung der Leistungen; in der VV hatten die Delegierten noch per Antrag die zügige Finanzierung der Mehrleistungen im Rahmen des Gesetzes angemahnt.
Zu den Lasten des TSVG zählt die Verpflichtung zum Melden freier Termine für die Terminservicestelle (TSS). Deren Integration mit der Notdienst-Hotline 116117 biete zumindest die Chance zur sinnvollen Steuerung der Patienten. „Wir haben dafür gekämpft, dass diese Steuerung nicht durch andere erfolgt. Jetzt müssen wir liefern“, sagte Bergmann. Die TSS wird seit der Debatte um das TSVG deutlich mehr in Anspruch genommen: Seit März ist die Zahl der Anrufer von etwa 300 auf bis zu 900 pro Tag gestiegen.
Zahlen präsentierte der Vorstand auch zur neuen Bedarfsplanungs-Richtlinie, die zum 1. Juli 2019 in Kraft getreten ist. Laut einer Prognose der KBV könnte es in Nordrhein ein Plus von etwa 320 Sitzen geben, davon circa 110 für Hausärzte. Durch das Absenken von Verhältniszahlen stünden auch mehr Sitze für Fachinternisten, Kinderärzte, Nervenärzte und Psychotherapeuten zur Verfügung. Zusätzliche Niederlassungsmöglichkeiten seien ab Anfang 2020 zu erwarten – leider bleibe einmal mehr offen, wie die Gegenfinanzierung der zusätzlichen Sitze aussehe. Bergmann kritisierte Eingriffsmöglichkeiten der Landespolitik, die nicht zu einer „Politisierung“ der Planung wie bei den Krankenhäusern führen dürfe. „Wir verlieren auch an Autonomie bei der Planung, da die Zahlen alle zwei Jahre von der KBV aktualisiert werden.“
In Sachen Telematikinfrastruktur (TI) gab es erneut Kritik an den Vorgaben des Gesetzgebers und dem Zwang zur Vernetzung. Die Delegierten folgten mehrheitlich einem Antrag zum „Recht auf Nichtvernetzung“. Das DVG aber zeigt, wohin die Reise geht – und dass die Politik keinen Zentimeter von ihrer Linie abweicht. In Nordrhein sind rund 17.500 Betriebsstätten zum Anschluss an die TI verpflichtet. Praxen, die sich nicht anschließen, müssen gemäß der gesetzlichen Vorgaben von den Kassenärztlichen Vereinigungen sanktioniert werden – spätestens mit der Abrechnung des dritten Quartals. Bis Ende September sollen etwa 90 Prozent der Praxen im Rheinland an die TI angeschlossen sein.
Dr. Heiko Schmitz leitet den Bereich Presse und Medien der KV Nordrhein.