Die Kunsttherapie und die Musiktherapie, aber auch die Tanztherapie haben sich in Teilbereichen der klinischen Versorgung inzwischen als komplementäre Angebote etabliert, zum Beispiel in der Neurologie oder Psychiatrie.
von Bülent Erdogan
Der Sturz vom Baum, der sein Leben von den Füßen auf den Kopf stellte, ist nun sechs Jahre her. Der Kölner HNO-Arzt Dr. Dr. Rainer Broicher ist seitdem hoch querschnittsgelähmt. Als Broicher auf der Intensivstation erwacht und realisiert, dass sich sein Leben fundamental verändern wird, dass er seine Beine und auch seine Arme nicht mehr bewegen können wird, da kreisen die Gedanken um die Familie und wie es in der Katastrophe weitergehen kann. „Auch unter diesem Aspekt“, blickt der Vater von drei Töchtern im Gespräch mit dem RÄ zurück, „war das Malen für mich eine Möglichkeit, das, was ich mir vorgenommen hatte, auch zu realisieren, nämlich meiner Familie weiter ein Auskommen zu bieten.“ Seine ersten Pinselstriche mit dem Mund macht Broicher während seiner Frühreha in der BG-Klinik Murnau im Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Eines der ersten Motive ist ein Rettungshubschrauber, von denen viele die Klinik täglich ansteuern. Mit der Malerei trainiert Broicher nicht nur seine Feinmotorik, er bekämpft auch die bohrende Langeweile, die sich einstellt, wenn die tägliche Therapie nach zwei oder drei Stunden vorbei ist. Anfangs malt er „unter Aufsicht“, wie er sagt – auch um es nicht zu übertreiben. „Ich kann gar nicht sagen, ob ich mit den Händen ebenso gut malen würde“, sagt Broicher, „ich hatte früher neben dem Beruf einfach keine Zeit dafür. Und die wenige Freizeit habe ich im Garten und mit meiner Familie verbracht.“ Das Malen vertreibt ein wenig die Zeit, die er nun im Überfluss hat.
Noch in Murnau erfährt der Mediziner erste Anerkennung für seine Arbeiten. In Köln verbringt er die erste Zeit in einem Seniorenheim. Dort ist er völlig fehl am Platz, aber man richtet ihm ein Mal-Zimmer ein: „Dort kam mir dann auch die Idee, Kölner Panoramen zu zeichnen.“ Es entsteht die Idee, einen Kalender mit zwölf Motiven seiner Heimatstadt zu entwerfen. Broicher malt mit der „Einpinsel-Technik“, was bedeutet, dass er das gesamte Bild ohne Wechsel des Pinsels durchmalt. Die verschiedenen Farbtöne mischt sich der Künstler mit seinem Mundstabpinsel. Es mache ihm Freude, andere Menschen mit seinen Werken zu berühren und zu bewegen, sagt Broicher. Manchmal komme es ihm vor, dass er mit seinen Kalendern mehr Wertschätzung erfahre als damals als vielbeschäftigter HNO-Arzt.
Singend die Sprache rückerobern
Im achten Obergeschoss des Aachener Uniklinikums ist die Aphasie-Station der Neurologie untergebracht: Dort empfängt die Dipl.-Musiktherapeutin Barbara Kollmer einen Patienten der Aphasie-Station am Klavier und singt mit ihm gemeinsam Klassiker der U-Musik wie Rod Stewarts „Sailing“ (1975) oder „Morning has broken“ von Cat Stevens (1971). Manchmal wiederholt Kollmer einen Vers, oder sie motiviert den Patienten, ein Wort oder eine Silbe noch einmal auszusprechen. Dieser ist mit Elan bei der Sache, verfällt dabei auch schon einmal ins summende Falsett, weil er seine Tonalität nicht steuern kann. Früher habe er im Chor als Tenor gesungen, hatte der Patient Kollmer einmal gesagt.
Kollmer hat vor ihrer Ausbildung zur Musiktherapeutin Musik studiert, spielt seit ihrem neunten Lebensjahr Klavier und transponiert ein Lied auch schon einmal herunter, damit der Patient tiefer und damit bewusst singt. Neben der allgemeinen Motivation für den Reha-Prozess geht es in dieser Therapiestunde darum, Ressourcen im Gehirn zu aktivieren, damit der Patient sobald wie möglich und so gut es geht wieder sprechen kann. Die Musik soll hier eine Brücke zu positiven Gefühlen sowie den Fähigkeiten schlagen, die vor dem Schlaganfall vorhanden waren. Auffällig ist der intensive Blickkontakt, den der Patient zu Kollmer aufnimmt, wie er an den Lippen der Therapeutin hängt, um die Aussprache der Wörter zu erfassen.
Nach einigen englischen Stücken sucht sich der Mann „Mein kleiner grüner Kaktus“ von den Comedian Harmonists (1934) aus. Kollmer quittiert die Wahl mit anerkennenden Worten: „Da haben Sie sich aber ein schweres Stück ausgesucht.“ Und es passiert tatsächlich: Der Patient, der beim berühmten „Hollari, Hollari, Hollaro“ achtmal „vergaß“ den Mund zu einem „O“ zu formen, befiehlt die Lippen beim neunten Male zum perfekten Rund. Für diese Stunde ist es damit auch genug.
Laut der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG) ist Musiktherapie „eine summarische Bezeichnung für unterschiedliche musiktherapeutische Konzeptionen, die ihrem Wesen nach als psychotherapeutische zu charakterisieren sind, in Abgrenzung zu pharmakologischer und physikalischer Therapie. Kennzeichnend für die Musiktherapie ist der gezielte Einsatz von Musik im Rahmen der therapeutischen Beziehung zur Wiederherstellung, Erhaltung und Förderung seelischer, körperlicher und geistiger Gesundheit. In der Musiktherapie ist Musik Gegenstand und damit Bezugspunkt für Patient und Therapeut in der materiellen Welt. An ihm können sich Wahrnehmungs-, Erlebnis-, Symbolisierungs- und Beziehungsfähigkeit des Individuums entwickeln. Rezeption, Produktion und Reproduktion von Musik setzen intrapsychische und interpersonelle Prozesse in Gang und haben dabei sowohl diagnostische als auch therapeutische Funktion. (…)“
Nach einer kurzen Pause geht es im „Klavierzimmer“ der Aachener Uniklinik weiter. Bei der Patientin, die nun Platz nimmt, ist ein Ziel, sie zum lesenden Singen zu bewegen. Von einigen Liedern konnte sie die erste Strophe auswendig singen, aber dann wurde es bislang frustran, schildert Kollmer dem RÄ die Ausgangssituation. Nun soll die Patientin die ihr unbekannten Strophen direkt vom Blatt ablesen, damit die Lieder auch komplett gesungen werden können. Und das gelingt erstaunlich gut, ebenso das Rückwärtsblättern in der Loseblattsammlung, zum Abschluss ist „Lied 34“ an der Reihe. Auch ihr merkt man die große Anstrengung an, die das Sprechen in ganzen Sätzen, zum Beispiel die Antwort auf die Frage, ob dieses oder jenes Lied bekannt ist und man es ansingen möchte, bereitet. Immerhin kann die Patientin mit einem klaren „Nein“ artikulieren, wenn sie etwas nicht singen mag, während der Patient von vorhin in solchen Situationen eher geschwiegen oder das Gesicht verzogen und nur bei klarer Zustimmung mit „Ja“ geantwortet hat. Im Singen jedoch werden aus einzelnen Wörtern ganze Sätze, erleben und hören sich die beiden Patienten als sprechende Wesen. Bei „My Bonnie Is Over The Ocean“ blüht die Patientin auf, so intensiv ist die Erinnerung und die Freude an diesem Lied und insbesondere daran, dass sie alle Strophen ablesend gesungen hat.
„Aus der neurorehabilitativen Perspektive“, sagt PD Dr. med. Cornelius J. Werner, Leitender Oberarzt der Klinik für Neurologie, „trägt die Musiktherapie sehr viel zur intensiven Aphasietherapie bei, die für die Patienten gelegentlich mühsam und frustrierend ist: sie gibt den Betroffenen einen Kanal, auf dem sie ihren Emotionen auch ohne Sprache Ausdruck und Gehör verschaffen können – oft zum ersten Mal. Sich so als Teil einer kommunizierenden Gemeinschaft von Menschen zu erleben, ist für viele ein sehr befreiendes Erlebnis, welches Mut und Energie für das sprachsystematische Training und den Alltag vermitteln kann.“
Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) hat die Musiktherapie als Künstlerische Therapie über den Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) unter dem Sammelbegriff „Künstlerische Therapien“ im Fallpauschalensystem integriert (OPS 9-401.4). Sie wird zudem unter dem Rubrum „Künstlerische Therapien“ in der „Klassifikation therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation“ der Deutschen Rentenversicherung aufgeführt. Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft (DMtG) gehört seit April dieses Jahres zu den (nicht in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften organisierten) medizinischen Fachgesellschaften, die bei der Erstellung von Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesausschuss ein Recht auf Abgabe einer Stellungnahme nach § 136a Abs. 2 SGB V haben.
Der Patient soll sich wieder als Subjekt erleben
Künstlerische Therapien haben seit dem Jahr 2002 Eingang in verschiedene medizinische Leitlinien gefunden, wie aus einer entsprechenden Auflistung der Bundesarbeitsgemeinschaft Künstlerische Therapien (BAG KT) hervorgeht. In der Geriatrischen Komplexbehandlung (OPS 8-550) und in bestimmten Situationen der psychosozialen, psychosomatischen und neuro-psychologischen Therapie (9. OPS-Kapitel) können KT erlöswirksam angewendet werden.
Am LVR-Klinikum Düsseldorf leitet im Haus 1 Dr. Peter Hoffmann den Bereich Kreativtherapie/Sport- und Bewegungstherapie. Dort sind 14 Therapeuten tätig, in der Psychosomatik des Klinikums weitere sieben Kolleginnen und Kollegen. Angeboten wird Musik-, Kunst- und Tanztherapie sowie die Poesie- und Bibliotherapie. „Bei all diesen Therapierichtungen geht es in erster Linie darum, dem Patienten zu vermitteln, dass er handelndes Subjekt ist im Umgang mit seiner Erkrankung, ihm im Therapieprozess zu neuen Gestaltungsmöglichkeiten zu verhelfen und ihm eine andere Art des Ausdrucks zu ermöglichen als jenen der Sprache“, sagt Hoffmann. In der Musiktherapie steht der Aufbau von Beziehung und der Ausdruck von und der Umgang mit Emotionen im Mittelpunkt. „Die Bewegungs- und Tanztherapie fokussiert auf leibliche Erfahrungen und darauf zu verstehen, dass seelische Vorgänge Einfluss nehmen auf den eigenen Leib und in der Folge auf den Umgang mit diesem Wissen. Die Kunsttherapie ermöglicht den Ausdruck und die Bearbeitung innerer Bilder zum Beispiel mittels Formen, Bilder oder Skulpturen“, sagt der Musiktherapeut.
Zu den Patienten in Haus 1 gehören sowohl Patienten mit affektiven Erkrankungen als auch solche mit psychotischen Erkrankungen. Die Entscheidung für eine Form der künstlerischen Therapien trifft der behandelnde Arzt. Kontraindikation sind akute Stadien bei psychotischen Patienten und selbst- bzw. fremdgefährdendes Verhalten der Patienten.
Bei Borderline-Patienten kann Musik zum Beispiel dafür eingesetzt werden, Stimmungen zu regulieren, berichtet Hoffmann. Dazu gehört auch, mit dem Patienten zu besprechen, welche Musik negative Emotionen verstärken können und diese Stücke oder Stilrichtungen dann auch zu meiden. „Es gibt Studien, wonach auch wir, die wir nicht erkrankt sind, Musik einsetzen, um unseren Alltag zu bewältigen, unsere Emotionen zu regulieren und unsere Identität zu bilden und zu entwickeln. Über die Künste können Patienten erfahren, welche eigentlichen Lebensbedürfnisse und Ressourcen sie haben. Künstlerisch gestaltende Aktivität ermöglicht es dem Patienten, neue Facetten der Identität und der eigenen Subjektivität kennenzulernen. Darüber entsteht neues Wahrnehmen, neues Fühlen, neues Erleben, neues Denken und die Chance, das eigene Verhalten zu verändern und neue Lebensperspektiven aufzubauen.“
Die künstlerische Betätigung könne für einen Menschen eine ausgesprochen entlastende, bestärkende, bedeutungsvolle Wirkung entfalten, sagt Hoffmann: „Im klinischen Zusammenhang braucht es aber besondere Aspekte, damit die Kunst in der Therapie ihre Wirkung entfalten kann. Das ist die enge Beziehung zwischen Patient und Therapeut, mit den Zielen des Beziehungsaufbaus sowie der Exploration, was für den Patienten wichtig ist, in welchen Bereichen er sich entwickeln möchte und verändern kann, um die künstlerischen Medien gezielt und therapeutisch sinnvoll einzusetzen.“
Dem Kölner Arzt Dr. Dr. Rainer Broicher hat das Malen ermöglicht, einer Tätigkeit nachzugehen, die ihn auf besondere Weise mit seiner Heimat und seinen Mitmenschen verbindet. Mit ihr kann er einen Teil seiner aktiven Körperlichkeit schöpferisch ausleben und farbenfroh ausdrücken. Darüber hinaus bietet es Perspektive, seit Jahren träumt er davon, auch größere Formate als das bisher übliche DIN-A 3 zu malen, was noch an ergonomischen Details scheitert. Schließlich ist da auch der finanzielle Aspekt, der Broicher noch auf der Intensivstation umgetrieben hatte: In diesem Jahr wird Broicher seinen sechsten Köln-Motiv-Kalender veröffentlichen, mit einer Auflage von mehr als 2.000 Exemplaren. Hinzu kommt in fünfter Auflage ein Deutschland-Kalender. Mit den Erlösen kann er einen kleinen Teil des Einkommensverlusts auffangen, der mit dem Sturz aus dem Baum eintrat.