Mitte Mai standen auf dem achten Kammerkolloquium zur Kinder- und Jugendgesundheit zwei Themengebiete im Fokus eines interprofessionellen Dialogs, die aktuell als besondere Herausforderungen des Kindes- und Jugendalters diskutiert werden: Die Inklusion im schulischen Alltag und der Einfluss digitaler Medien.
von Michael Ganter
Junge Menschen wachsen heutzutage in einer globalisierten Welt auf, die sich inmitten eines tiefgreifenden Digitalisierungsprozesses befindet. In diesen Zeiten nicht die Orientierung zu verlieren und im Zuge des Erwachsenwerdens seinen Platz in der Gesellschaft zu finden sind gegenwärtige Herausforderungen, vor denen die heutige Jugend gestellt wird. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche mit körperlichen und geistigen Einschränkungen. „Mit unserer Kolloquienreihe zur Kindergesundheit suchen wir einen regelmäßigen Austausch mit unterschiedlichen Akteuren auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, um auf Entwicklungsstörungen und Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter aufmerksam zu machen“, sagte Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, und begrüßte die knapp 120 Gäste und Referentinnen und Referenten im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf. „Digitale Medien und Inklusion haben beide etwas mit Teilhabe zu tun und jeder Mensch beziehungsweise jedes Kind hat das Recht auf Teilhabe in unserer Gesellschaft, unabhängig von Ethnie, Geschlecht, körperlicher Verfassung oder Intelligenz“, sagte Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Er wünscht sich zukünftig eine Inklusion, die allen Kindern gerecht wird und schlug vor, hierbei auch die Nutzung digitaler Medien miteinzubeziehen. „Es ist eine große Chance, wenn ein chronisch krankes Kind mit seinen Mitschülern und seinem Lehrer über Skype Kontakt halten kann. Wir müssen also weg von einer Polarisierung von guten und schlechten Medien hin zu einer Differenzierung, die analysiert, wo uns digitale Medien unterstützen können“, so Fischbach.
Neuausrichtung der Inklusion in NRW
Dass allen Kindern das Recht auf Teilhabe zusteht, betonte ebenfalls Dr. paed. Simone Schlepp, Dezernentin für Schulfachliche Aufsicht der Bezirksregierung Düsseldorf für Förderschulen und Sonderpädagogische Förderung. Sie stellte den Runderlass zur Neuausrichtung der Inklusion in Schulen vor, der besagt, dass ab dem Schuljahr 2019/2020 an Haupt-, Real-, Gemeinschafts-, Sekundar- und Primusschulen in NRW Gemeinsames Lernen nur dann eingerichtet werden darf, wenn bestimmte Qualitätsstandards erfüllt werden. Hierzu zählen Inklusionskonzepte der Schulen, welche mit Unterstützung der Schulaufsicht erarbeitet werden, sonderpädagogische Fortbildungen für Lehrkräfte sowie die räumliche Ausstattung. Mit dieser Neuausrichtung der Inklusion verfolgt das Schulministerium die Absicht, die Schulen und Lehrkräfte so zu stärken, dass eine zielorientierte, passgenaue und individuelle Förderung sowie sonderpädagogische Unterstützung in den Schulen des Gemeinsamen Lernens umgesetzt werden kann.
„Kinder zwischen 7 und 17 Jahren weisen heutzutage zu 18 Prozent emotionale Probleme und zu 30 Prozent Verhaltensauffälligkeiten auf. Besonders besorgniserregend ist der Anstieg der Suizidalität und das selbst- und fremdaggressive Verhalten“, sagte Dr. rer. nat. Dipl.-Psych. Peter Melchers, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Klinikum Oberberg in Gummersbach. Schülerinnen und Schüler mit Einschränkungen von Intelligenz oder Lernfähigkeit reagieren nach seinen Worten auf Stressfaktoren des Alltags, wozu auch hoher Medienkonsum zählt, viel häufiger und stärker mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Erkrankungen. „Durch die mit G-8 verbundene subjektive und objektive Überlastung sehen wir Jugendliche mit Erschöpfungszuständen, die sonst sicher keine Kinder- und Jugendpsychiatrie bräuchten“, sagte Melchers. Er fügte an, dass ein Drittel der Schülerinnen und Schüler Angst vor Gewalt in Schulen habe und Mobbing weiterhin ein ernstzunehmendes Problem sei, das durch das Internet noch verstärkt werde. „Schule ist unter den genannten Bedingungen kein Ort von Orientierung, Schutz und Anleitung. Viel eher ist es ein Ort von Anforderung und Druck“, so Melchers.
Faszination und Gefahren virtueller Welten
Posten, Liken, Followen, Tweeten, Let’s Playen – für viele Erwachsene sind diese Begriffe fremdes Terrain und nur wenige wissen überhaupt in Gänze, was damit gemeint ist. In diesem Zusammenhang fallen unter Medienpädagogen und -Experten häufig die Bezeichnungen „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“, die Professor Dr. phil. Kai Hugger, Leiter der Arbeitsgruppe Medienpädagogik und Mediendidaktik an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, in seinem Vortrag genauer beschrieb. Erwachsene werden oft als „Digital Immigrants“ bezeichnet, die mit den neuen Medien nicht aufgewachsen sind, sich das Wissen erst mühsam aneignen müssen und stellenweise Schwierigkeiten haben, Verknüpfungen herzustellen. Ganz anders sieht es bei der heutigen Generation von Kindern und Jugendlichen aus. Sie gelten als „Digital Natives“, die einen spielerischen Zugang zu den neuen Medienformen haben, mit ihnen aufwachsen und sich ohne große Anstrengungen in der virtuellen Welt bewegen.
„Social Media Plattformen sind für Kinder und Jugendliche nicht nur ein Zeitvertreib, sondern Informations-, Kommunikations- und Beziehungsmanagement und zentrale Ressource zur eigenen Identitätsbildung“, fügte Hugger an. Politische Informationen beziehen Jugendliche laut Hugger vermehrt nicht mehr über traditionelle Wege, sondern über Plattformen wie Twitter, Instagram und YouTube. Die Gefahr bestünde darin, dass die Aussagen der YouTuber und Influencer zu wenig hinterfragt werden. „Jugendliche sind Digital Natives, die einen Bedarf für eine stärkere Förderung der Medienkompetenz im Schulalter haben“, fasste Hugger zusammen. Andererseits verlangt er auch von Eltern und Lehrern die Bereitschaft, sich mit dem Medienverhalten ihrer Kinder beziehungsweise Schülerinnen und Schülern auseinanderzusetzen. „Eltern und Lehrer müssen auch an ihrer eigenen Medienkompetenz arbeiten, damit sie, die Kinder, uns nicht verloren gehen“, so Hugger.
„Wie im realen Leben suchen Kinder und Jugendliche im Internet nach Aufmerksamkeit, Beachtung, Stärke und Attraktivität in einem anhaltenden Wettbewerb mit anderen“, sagte Dr. Andreas Richterich, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des HELIOS-Klinikums Bochum-Linden. Die Suche nach Wertschätzung und Anerkennung im Internet wirke besonders dann anziehend, wenn die Erfolge im echten Leben ausblieben oder der Antrieb, sich im echten Leben anzustrengen, nicht mehr gegeben sei.
„In Deutschland haben die Schulfehltage zugenommen und es ist ein eindeutiger Trend erkennbar, dass ein exzessiver Internet- und Medienkonsum einen großen Teil dazu beiträgt“, warnte Richterich. Wird aus Medienkonsum Medienabhängigkeit, helfe oft nur noch ein therapeutisches Angebot, das in den Kliniken in enger Zusammenarbeit mit den Eltern und Familien ausgearbeitet werde. Für die zukünftigen Debatten über Medienkonsum und Medienkompetenz wünscht er sich, dass die zuständigen Ärztinnen und Ärzte ihre klinischen Erfahrungen, die sie mit den Kindern und Jugendlichen machen, noch stärker einbringen.
Dr. Anne Bunte verabschiedet
Ein besonderer Moment galt Dr. Anne Bunte, die das Kolloquium bereits zum achten Male moderierte und den Vorstand der Ärztekammer Nordrhein wegen ihres beruflichen Wechsels nach Gütersloh zum 1. April 2019 verlassen hat. Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, dankte Bunte für ihr „außergewöhnliches ehrenamtliches Engagement“ und würdigte ihre Leistungen als Vorsitzende des Kammerausschusses „Öffentliches Gesundheitswesen, Suchtgefahren und Drogenabhängigkeit“.