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Fehlende Inaugenscheinnahme

18.03.2019 Seite 26
RAE Ausgabe 3/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2019

Seite 26

Die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit durch einen ermächtigten Arzt sieht vor, dass die Bewertung des körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitszustandes der oder des Versicherten einer ärztlichen Untersuchung bedarf.

von Rainer Windeck, Wolfgang Sohn, Ernst Jürgen Kratz und Beate Weber *

Im nachfolgend geschilderten Fall beklagte ein Patient, ihm sei trotz seines schlechten Gesundheitszustandes bei seinem Besuch in der Praxis seines Hausarztes nur eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgehändigt worden. Weil der Arzt ihn nicht untersucht und behandelt habe, sei eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz eingetreten.

Der 44-jährige Patient begab sich im Jahr 2015 an einem Mittwoch ohne Temin in die Hausarztpraxis, weil er seit einigen Tagen unter Erbrechen gelitten habe, sein Gesicht angeschwollen sei und er seit dem Morgen auf einem Auge nicht mehr habe sehen können. Da seine Versichertenkarte nicht mehr gültig gewesen sei, habe man zunächst eine aktuelle Mitgliedsbescheinigung seiner Krankenkasse angefordert. Im Wartezimmer sei ihm dann, ohne dass der Arzt ihn gesehen habe, durch die Arzthelferin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgehändigt worden, verbunden mit der Aufforderung, er möge sich am kommenden Montag, das bedeutete nach fünf weiteren Tagen, wieder vorstellen.

Der Patient berichtete weiter, dass sich sein Gesundheitszustand in den Folgetagen zunehmend verschlechtert habe. An dem betreffenden Montag habe er dann auf beiden Augen nicht mehr sehen können. Seine Ehefrau habe ihn um 8 Uhr morgens in die Hausarztpraxis gebracht. Da der Arzt noch nicht anwesend gewesen sei, wurde ihnen von der Arzthelferin nahegelegt, ins Krankenhaus zu fahren oder später wiederzukommen. Er habe dann aufgrund seines schlechten Befindens kaum noch das Auto seiner Ehefrau erreichen können. In der Krankenhausnotaufnahme sei dann eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz festgestellt worden, die sich nicht mehr gebessert habe.

Der Antragsgegner widerspricht in seiner Stellungnahme den Angaben des Patienten: Ihm sei schon bei der ersten Vorstellung in der Praxis eine Untersuchung angeboten worden; der Patient habe aber nicht warten wollen. Die Karteikarte des Arztes weist für den Behandlungszeitraum 2005 bis 2015 nur Diagnosen und Verordnungen aus, aber keine Untersuchungsbefunde. Für den umstrittenen Mittwoch ist aufgeführt: „Patient ungepflegt und offensichtlich alkoholisiert, kann nicht arbeiten, braucht AU.“ Ausgestellt wurde eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für 3 Tage wegen einer gesicherten Gastroenteritis. Für den betreffenden Montag ist aufgeführt: „Arzt noch nicht im Haus, angeboten zu warten, Patient ging ohne Behandlung.“

Der Patient wurde ab dem erwähnten Montag bei dialysepflichtiger Niereninsuffizienz stationär behandelt. Vier Wochen später erhielt er einen Shunt zur dauerhaften Dialyse.

Bewertung des Sachverhaltes

Die Tatsache, dass der Arzt am besagten Mittwoch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellte, ohne den Patienten gesehen zu haben, verletzt die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie.

Der Vorgang schlägt sich zugleich als Behandlungsfehler nieder. Wenn der Arzt den Patienten mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstattete, dann musste er ihn zuvor gesehen haben. Ihm wäre das schlechte Befinden des Patienten aufgefallen, ebenso die Wassereinlagerungen im Gesicht, möglicherweise ein auffälliger urämischer Geruch, den die Arzthelferin als Folge eines Alkoholkonsums fehlinterpretiert hatte; auf die beklagte Sehstörung hätte er eingehen müssen. Diese äußeren Befunde gaben Veranlassung zur weiteren Untersuchung, vermutlich auch zur Einweisung in ein Krankenhaus.

Obgleich im Gutachten ein Befunderhebungsfehler mit Umkehr der Beweislast festgestellt worden ist, kann der Gesundheitsschaden nur im Hinblick auf das körperliche Befinden an den Tagen zwischen den beiden Arztbesuchen gesehen werden. Eine Verschlechterung durch den zeitlichen Verzug wäre zwar denkbar. Der irreversible Nierenschaden war jedoch bei der Erstvorstellung mit Sicherheit schon vorhanden, sodass eine um fünf Tage frühere Behandlung in diesem Fall keinen erkennbaren Einfluss gehabt hätte, was die bei der Aufnahme in der Klinik erhobenen Nierenretentionswerte eindeutig belegen. Im vorliegenden Fall lag als auslösender Faktor am ehesten eine maligne Hypertonie vor. Bei diesem Krankheitsbild liegt typischer Weise eine unbehandelte oder schwer behandelbare Hochdruckform vor, die bei ungenügender Therapie zum Nierenversagen führt. Dafür spricht, dass bei der Echokardiographie in der Klinik deutliche Zeichen einer linksventrikulären (Hochdruck) Belastung genannt werden. Weiterhin waren die Augenveränderungen, wie sie im augenärztlichen Konsil genannt werden, vereinbar mit einer malignen Hypertonie.

Fallstricke

  • Ausstellen einer AU ohne Inaugenscheinnahme
  • Angaben der Arzthelferin nicht infrage gestellt/verifiziert
  • Anweisung zur Wiedervorstellung erst nach 5  Tagen

* Professor Dr. med. Rainer Windeck und Dr. med. Wolfgang Sohn sind Stellvertretende Geschäftsführende Kommissionsmitglieder, Vizepräsident des Oberlandesgerichts a.D. Ernst Jürgen Kratz ist Stellvertretender Vorsitzender und Dr. med. Beate Weber ist Mitarbeiterin der Geschäftsstelle der Gutachterkommission Nordrhein.