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„Gewalt in der Familie wird von Kindern als existenzielle Bedrohung erlebt“

31.01.2019 Seite 29
RAE Ausgabe 2/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2019

Seite 29

Laut BKA-Statistik handelt es sich bei knapp 70 Prozent der Fälle von Partnerschaftsgewalt um Körperverletzungen, in etwa 25 Prozent um Stalking, Freiheitsberaubung oder Bedrohung. Kinder sind als Opfer oder Zeugen von Gewalt besonders vulnerabel. © sturti/istockphoto

Jugendämter in Deutschland stellten im Jahr 2017 in knapp 22.000 Fällen eine akute Gefährdung des Kindeswohls fest. Sind Kinder und Jugendliche nicht selbst Opfer, erleben sie Familiendramen als Augen- und Ohrenzeugen mit. Laut der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik wurden knapp 114.000 Frauen Opfer häuslicher Gewalt.

von Vassiliki Latrovali

„Ärzte nehmen eine zentrale Stellung ein, wenn es darum geht, Gewaltbelastungen bei Müttern und Kindern zu erkennen und Hilfestellung zu leisten“, sagte Professor Dr. Susanne Schwalen, Geschäftsführende Ärztin der Ärztekammer Nordrhein, auf der Veranstaltung „Häusliche Gewalt und Kindeswohl“ im November 2018 im Haus der Ärzteschaft. Organisiert wurde das Symposium von Ärztekammer Nordrhein, Kassenärztlicher Vereinigung Nordrhein und Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft. Rund 200 Ärztinnen und Ärzte sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Jugendämtern, Beratungsstellen und der Kriminalpolizei sowie Hebammen, Krankenschwestern und Pädagogen zeigten mit ihrer Anwesenheit, dass das Thema eine interprofessionelle Angelegenheit ist.

„Kinder sind unsere Zukunft“, so Schwalen. „Sie brauchen Liebe, Anerkennung und Geborgenheit als Grundlagen für ein gesundes Leben.“ Unglücklicherweise, so die Ärztin, gelingt es nicht jeder Familie ihrem Nachwuchs diese Aspekte zu vermitteln. Die Jugendämter in Deutschland, so die Geschäftsführende Ärztin der Ärztekammer, führten im Jahr 2014 rund 124.000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durch. 2017 wurde in knapp 22.000 Verfahren eine akute Kindeswohlgefährdung festgestellt. Staatssekretär Andreas Bothe aus dem Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration NRW betonte, dass der Staat eingreifen muss, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Um Risiken früh zu erkennen, brauche es ein aufmerksames, gut vernetztes Umfeld entsprechender Professionen. „Ärztinnen und Ärzte können wichtige Bindeglieder bei der Präventionsarbeit sein.“

Prävention beginnt im Elternhaus

Laut Heike Reinecke, Referatsleiterin für den Öffentlichen Gesundheitsdienst und Kindergesundheit im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW, sollte es das Ziel der verschiedenen Akteure sein, wirkungsvoll zu kooperieren, um häusliche Gewalt in Familien möglichst früh zu erkennen und zu handeln. Der Schlüssel für eine gelungene Prävention liege im Elternhaus – es gehe besonders darum, Elternkompetenzen auszubauen und zu stärken. Das Gesundheitswesen, so Reinecke, spiele eine wichtige Rolle in dieser Präventionsarbeit: „Es genießt einen hohen Vertrauensvorschuss und ermöglicht daher einen unbelasteten Zugang.“ Kinder und Jugendliche, die häusliche Gewalt erleben, so Reinecke, tragen den Verlust von Sicherheit und Vertrauen ein Leben lang mit sich mit. „Körperliche, verbale, psychische oder sexualisierte  Gewalt in der Familie wird von Kindern als existenzielle Bedrohung erlebt“, so die Referatsleiterin.

Dr. Wilfried Kratzsch, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft, erläuterte, dass laut einer Prävalenzstudie des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen rund drei Prozent der Kinder in Deutschland im Alter bis drei Jahren Zeuge oder Opfer häuslicher Gewalt werden.  „Die daraus resultierenden, lebenslang anhaltenden Traumata können wirksam behandelt werden, wenn Risikofaktoren möglichst früh, mit Beginn der Schwangerschaft der Mütter, erkannt und Interventionen zur Unterbrechung der Gewaltspirale eingeleitet werden.“ Denn betroffene Frauen, so Kratzsch, leiden meist an posttraumatischen Belastungsstörungen, durchleben öfter Fehlgeburten und suchen nach gesundheitsgefährdenden Bewältigungsstrategien wie Nikotin, Drogen oder Medikamenten.

Professor Dr. Claudia Buß vom Institut für Medizinische Psychologie der Charité Universitätsmedizin Berlin sagte dazu: „Mütterlicher Stress kann über die Plazenta, durch Botenstoffe, auf den Fetus übertragen werden. Somit können frühe Umweltbedingungen unter anderem die Gehirnentwicklung des ungeborenen Kindes beeinflussen.“ Hätten Mütter in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht, könne auch das die Weichen für Krankheit und Gesundheit künftiger Generationen setzen.

Die Folgen sind lebensbestimmend

Auch häusliche Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend übertragen sich oftmals auf die nächsten Generationen – frühere Opfer können dann auch zu Tätern werden oder laufen Gefahr, im Erwachsenalter erneut Opfer von Gewalt zu werden. „Körperliche und psychische Gewalt durch die Eltern, ein eingeschränkter familiärer Zusammenhalt oder elterliche Psychopathologie sind einerseits mit höheren Viktimisierungswahrscheinlichkeiten verbunden, andererseits auch mit Aggression und Gewaltausübung“, so Dr. Robert Schlack, Sprecher der Ständigen Kaiserin-Auguste-Viktoria-Kommission für Prävention der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin und Gesundheitswissenschaftler am Robert Koch-Institut (RKI).

Laut  Ergebnissen  der KiGGS-Studie des RKI mit Jungen und Mädchen zwischen elf und 17 Jahren sind selbst vergleichsweise geringfügig  von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche deutlich von negativen Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand betroffen. Täter zeigen häufiger aggressiv-dissoziale Verhaltensauffälligkeiten und  weisen häufiger ADHS-Diagnosen auf, aber auch Tendenzen zu Depressivität und Somatisierung. Ausschließliche Gewaltopfer hätten oft soziale Probleme mit Gleichaltrigen, seien aber auch emotional beeinträchtigt und hätten häufiger Essstörungs- und Schlafprobleme. Kinder und Jugendliche, die sowohl Täter als auch Opfer sind, stellten eine besondere Risikogruppe mit hoher psychopathologischer Belastung wie hyperaktives Verhalten, emotionalen und sozialen Problemen, Konzentrationsschwächen oder Wahrnehmungsstörungen dar.

Mit den Spätfolgen und Auswirkungen häuslicher Gewalt setzte sich auch Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein, auseinander. Zu oft, so Bergmann, halte ein hohes Maß an Scham die Geschädigten davon ab, das Erlebte mitzuteilen. „Wenn wir nicht intervenieren, bestimmen die traumatischen Erlebnisse die Opfer ein Leben lang.“ Zu den Folgen der häuslichen Gewalt zählten beispielsweise Störungen des Körperselbstbildes, Beziehungs- und Bindungsstörungen, soziale Isolation, Depressionen, Essstörungen und Drogen- oder Alkoholabhängigkeit.

Gewalt hat viele Gesichter

Den rechtlichen Rahmen erläuterte Professor Dr. Ludwig Salgo, der als Seniorprofessor Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Sozialrecht und Rechtsvergleichung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt lehrt. „Wir sind rechtlich, auch im internationalen Vergleich, ziemlich gut und modern aufgestellt. Trotzdem treten immer wieder strukturelle Probleme auf.“ Gerichte und Institutionen in Deutschland, so Salgo, scheitern oft an vorherrschenden Qualifikations-, Wissens- oder Implementierungsdefiziten. „Familiengerichte sind die tragende Säule im Kinderschutz, sie sollten sich deshalb an das halten, was das Verfahrensrecht vorschreibt“, sagte der Rechtswissenschaftler.

Grundrechtlich hätten Kinder einen Anspruch auf Schutz durch den Staat, wenn Eltern ihren Pflichten nicht nachkämen. Viel zu oft, so Salgo, würde man allerdings gerade Müttern unbewusst bestimmte Attribute zuschreiben, denen sie aber nicht immer gerecht werden. „Die Mutter ist in den Köpfen vieler Menschen immer fürsorglich und unschuldig. Etwas anderes ist kaum vorstellbar.“ Laut Salgo dürfen die Verantwortlichen im Kinderschutz sich nicht von ihren stereotypischen Wunschbildern leiten lassen, sondern müssen hinter die Kulisse jedes Falls blicken. Denn Gewalt hat viele Gesichter und bedient nicht immer Geschlechterklischees.

Die Dokumentationen zur Veranstaltung „Häusliche Gewalt und Kindeswohl“  erhalten Sie unter www.aekno.de/Dokumentenarchiv/AekNo.

Die Gewaltspirale durchbrechen

Warum Menschen in Intimbeziehungen zu Gewalt greifen ist ein überaus komplexes Phänomen, das sich durch alle sozialen Schichten zieht. Oft sind  die Täter mit Situationen in ihrem Alltag überfordert. Manchmal empfinden sie krankhafte Eifersucht, sind in ihrem Narzissmus gekränkt oder suchen nach einem Ventil für ihren Lebensfrust. Was Ärztinnen und Ärzte tun können, war auch Thema eines Beitrags im RÄ im Februar 2013 („Ärztliche Intervention gegen häusliche Gewalt“, S. 12 ff):

• Ansprechen, Zuhören, Fragen:
Menschen mit Gewalterfahrungen empfinden es häufig als Erleichterung, über das erlebte Leid zu sprechen. Wichtig ist, Patienten nicht zu drängen. Solche Gespräche sollten immer ohne Begleitpersonen erfolgen, sie könnten sich als Täter oder Aufpasser entpuppen.

• In ungestörter Atmosphäre:
Berichten die Patienten von häuslicher Gewalt, können Ärzte eine Untersuchung anbieten. Dabei sollte jeder einzelne Schritt besprochen und erklärt werden.

• Rechtssicher dokumentieren:
Die beweissichere Dokumentation der Verletzungen stärkt die Opfer bei zivil- und strafrechtlichen Verfahren. Mehr dazu im Leitfaden „Diagnose: Häusliche Gewalt“ (inklusive Dokumentationsbogen und Körperschema) unter www.aekno.de/haeusliche-gewalt.

• Die Gefahrenlage abklären:
Können oder wollen die Patienten nicht zurück nach Hause, kommt auch eine vorübergehende stationäre Aufnahme in Betracht. Bei akuter Bedrohung kann die Polizei den Gewalttäter der Wohnung verweisen. In dieser Zeit können Betroffene sich bei Hilfseinrichtungen informieren.

• Interdisziplinäre Unterstützungsangebote:
Plakate und Flyer über häusliche Gewalt können im Wartezimmer und den WC-Bereichen der Arztpraxis platziert werden. Ärztinnen und Ärzte können Betroffene zudem darauf hinweisen, dass neben der Polizei auch Krankenhäuser und bestimmte Einrichtungen eine vertrauensvolle Anlaufstelle darstellen.

• Netzwerke schaffen Sicherheit:
Ärztinnen und Ärzte können sich bei Unsicherheit, Angst und Sprachlosigkeit ebenfalls an verschiedene Beratungsstellen richten:

Das vom Innovationsfonds geförderte Projekt zur neurologisch-psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung (NPPV) der KV Nordrhein setzt auf ein gestuftes und koordiniertes Konzept. Durch eine intensive Zusammenarbeit aller Akteure sollen beispielsweise die Zahlen von Therapieabbrüchen und Krankenhausaufenthalten verringert werden.

2014 startete das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Projekt zur Erstellung der S 3-Leitlinie zum Thema Kinderschutz. 74 Fachgesellschaften und Organisationen aus Medizin, Wissenschaft und erstmals auch aus Jugendhilfe und Pädagogik kooperieren. Das Ziel der Leitlinie ist es, die Versorgungssituation von misshandelten, missbrauchten und vernachlässigten Kindern zu verbessern und die Zusammenarbeit der Partner im Kinderschutz zu beschreiben und zu optimieren. Die Leitlinie „Kindesmisshandlung, missbrauch und vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik“ soll im 1. Quartal 2019 veröffentlicht werden.