Sigmund Freud prägte bereits 1894 den Begriff der „narzisstischen Neurose“, die er auch als „Größenwahn“ bezeichnete. Knapp 100 Jahre später wurde die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ in das einflussreiche Klassifikationssystem DSM der American Psychiatric Association aufgenommen, parallel dazu beschrieb der amerikanische Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch in seinem Buch „Das Zeitalter des Narzissmus“ den dekadenten Ich-Kult der Industriegesellschaften. Durch die mediale Dauerpräsenz egozentrischer Persönlichkeiten in der Politik und im Showbusiness wird der „Narzissmus“ mittlerweile als Problem von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen, und kaum eine andere medizinische Diagnose ist so tief in die moderne Alltagssprache eingesickert.
Die 19. Ausgabe der „Euskirchener Gespräche“, einer von dem Euskirchener Neurologen und Psychiater Dr. Hubertus Rüber initiierten Fortbildungsreihe der Ärztekammer Nordrhein, ging daher der spannenden Frage nach, ob Distinktion statt Solidarität der neue Trend ist, wann Selbstverantwortung in krankhaften Ego-Wahn kippt und ob wir tatsächlich im „Zeitalter des Narzissmus“ leben.
Stabilisierung durch Exklusivität
Der Soziologe und Professor für vergleichende Kultursoziologie Andreas Reckwitz präsentierte in seinem Vortrag zum Phänomen der performativen Selbstverwirklichung einen interessanten Ansatz zu einem umfassenden Verständnis der spätmodernen Gesellschaft, in der das Einzigartige zum Maßstab aller Sphären wird. Während sich die Gesellschaft der „organisierten Moderne“ in der Nachkriegszeit sehr stark am Allgemeingültigen und Standardisierten orientiert habe, hätten sich in der Spätmoderne die Bewertungskriterien in Richtung des Besonderen und Einzigartigen verschoben. Dies gelte nicht nur für Individuen, sondern auch für Objekte und Erlebnisse: das Möbelstück vom Flohmarkt, das besondere Event, das exklusive Urlaubsziel.
In der Wirtschaft gehe heute der Trend von der Massenware zu singularisierten Konsumgütern, auch in der westlichen Arbeitswelt sei eine stärkere Vermarktlichung spürbar und insbesondere die digitale Revolution führe zu einer Einzigartigkeitsorientierung, beobachtet Reckwitz.
Narzissmus – Leitneurose der Spätmoderne?
Welche Spannungsfelder bilden sich in der spätmodernen Subjektkultur aus? Der Soziologe spricht vom „Imperativ der Selbstentgrenzung“: Das Ideal der performativen Selbstentfaltung kippt schnell um in einen Selbstzwang, da das spätmoderne Subjekt sämtliche Möglichkeiten realisieren will. Gelingt das nicht, ist Unzufriedenheit die Folge. Die Enttäuschungsanfälligkeit wird noch weiter angeheizt durch die Sichtbarkeit des Erfolges der anderen in den omnipräsenten Medien. So führt das immer stärkere Gefälle zwischen Gewinnern und Verlierern zur systematischen Kränkung des spätmodernen Subjekts, wie Reckwitz resümiert.
Privatdozent Dr. Gerhard Dammann, Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen/Schweiz, beleuchtete die Argumentationsstränge seines Vorredners aus psychologisch-psychoanalytischer Perspektive und widmete sich auch der Debatte, ob psychische Störungen in der modernen Gesellschaft zunehmen oder wir gar auf eine „narzisstische Epidemie“ zusteuern. Narzissmus ist für Dammann ein Kontinuum, das von leichten Akzentuierungen bis zu echten Persönlichkeitsstörungen und Psychopathien reicht. Der pathologische Narzisst betone die Beschäftigung mit der eigenen Großartigkeit, zeige eine starke Ichbezogenheit und Perfektionismus, habe dagegen phasenweise Gefühle der Inferiorität, was sich in Neid, Empfindlichkeit und Kränkbarkeit bemerkbar mache.
Der Wegfall von identitätsstiftenden Einbettungen und Traditionen, die Beschleunigung, die Virtualität und die Angleichung der Geschlechterrollen sind laut Dammann die wichtigsten sozialen Veränderungen der Spätmoderne, die einen Einfluss auf die Bildung des Selbst ausüben.
Werden wir denn wirklich immer kränker, regressiver, narzisstischer? Dammann warnte vor falschen Schlussfolgerungen und der Tendenz, politische oder gesellschaftliche Phänomene zu psychologisieren oder gar zu pathologisieren. Er tendiere eher zum Modell eines ambivalenten Strukturwandels, der einerseits zu größerer intrapsychischer Freiheit führe, andererseits zu größerer Vulnerabilität und Enttäuschungsanfälligkeit. In der Zeit der „unbegrenzten Möglichkeiten“ fällt das Scheitern vornehmlich auf einen selbst zurück, Selbstzweifel und Versagensangst können resultieren. Die Selbstwertproblematik erscheint daher gewissermaßen als Kehrseite des Ideals der Selbstverwirklichung in der Spätmoderne.