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Weiterführende Informationen und Differentialdiagnostik zur Zertifizierten Kasuistik: Patientin mit belastungsabhängiger einseitiger Rötung und Hyperhidrosis des Gesichts


Folge 81 der Reihe Zertifizierte Kasuistik

von Dirk Sander und Malte Ludwig

 

Erläuterung zur Kasuistik

Bei dem Krankheitsbild der 56-jährigen Patientin handelt es sich um ein Harlekin Syndrom.  Dieses Syndrom wurde erstmals 1988 von Lance und Mitarbeiter (1) beschrieben und geht bei den Betroffenen typischerweise mit einer einseitigen Gesichtsrötung und Schwitzen mit kontralateraler Anhidrose und Gesichtsblässe einher (2). Die Häufigkeit dieses Syndroms in der Bevölkerung liegt bei unter 1 : 1 Million. (Orphanet). Das Harlekin Syndrom tritt typischerweise unter Belastung, emotionalem Stress und bei Hitze auf. Im Falle der in dieser Kasuistik beschriebenen Patientin kam es zur linksseitigen Gesichtsrötung und Hyperhidrosis nur unter körperlicher Belastung nach circa 45 Minuten, wobei diese Reaktion an der kontralateralen Gesichtshälfte ausblieb. Im Ruhezustand bildeten sich die Symptome wieder komplett zurück. Zuletzt wurde sie anlässlich einer sommerlichen Bergwanderung bei Sonnenschein von entgegenkommenden Wanderern darauf hingewiesen, sie hätte sich einen einseitigen Sonnenbrand im Gesicht zugezogen.

In der vorliegenden Kasuistik war die Anamnese der nicht-rauchenden Patientin unauffällig. Insbesondere hatte sie in der Vorgeschichte keine Operationen, Traumata, keinen Appetit- oder Gewichtsverlust und keinen Husten. Ihre Familien- und Sozialanamnese waren unauffällig.

Auch die internistische und neurologische Untersuchung ergaben unter Ruhebedingungen keine Auffälligkeiten. Es bestanden bei der sich in gutem Allgemein- und Körperzustand befindlichen Patientin keine kardiovaskulären Risikofaktoren, regelmäßige Medikamenteneinnahme verneinte sie.

Speziell die neurologische Untersuchung der Hirnnerven, die Reflexüberprüfung sowie die Motorik und Sensorik der Patientin waren unauffällig. Die Pupillen waren seitengleich ein Horner-Syndrom konnte ausgeschlossen werden.

Durch einen 45-minütigen Belastungstest mittels Laufbandergometrie konnte bei der Patientin die einseitige Gesichtsrötung verbunden mit einseitigem Gesichtsschwitzen provoziert werden.

Alle ihre Laborwerte nebst Farb-Duplexsonographie der supraaortalen Arterien, einem auswärtigem Schädel-CT und -MRT sowie einer später durchgeführten HWS- und BWS-Diagnostik waren normal.

Aufgrund der komplett unauffälligen Ursachenabklärung (siehe Tabelle 1) konnte bei der Patientin die Diagnose eines ideopathischen Harlekin-Syndroms gestellt werden. Das Harlekin-Syndrom wurde erstmals 1988 von Lance et al. (5) am Beispiel von fünf Patienten beschrieben, die über plötzlich auftretende einseitige Gesichtsrötungen bei körperlicher Anstrengung oder in heißer Umgebung klagten. Die Autoren nahmen an, dass der torsionale Verschluss der vorderen radikulären Arterie in Höhe Th3 das Syndrom verursacht. Im Jahr 1993 beschrieben sie zwei weitere Patienten sowie zwei aus der ursprünglichen Publikation und kamen zu dem Schluss, dass die Läsion sowohl die prä- und postganglionären zervikalen sympathischen Fasern als auch die parasympathischen Neuronen des Ganglion ciliare betreffen könnte (6).

Heute weiß man, dass eine hemifaziale kutane sympathische Denervierung durch die Blockade der sympathischen Innervation des Ganglion stellatum Ursache für diese seltene autonome Störung ist (2) Das Gesicht wird von sympathischen Fasern innerviert, die aus dem Hypothalamus (Neuron erster Ordnung) entspringen und die im Seitenhorn des Rückenmarks in die präganglionären Neuronen (zweiter Ordnung) übergehen. Die vaso- und sudomotorischen Fasern verlassen das Rückenmark bei Th1-3 und verlaufen als sympathische Bahnen, um in die zervikalen Ganglien zu münden. Die postganglionären Fasern (Neuronen dritter Ordnung) aus dem zervikothorakalen Ganglion (Ganglion stellatum) verlaufen dann innerhalb des Plexus carotis, um ihre Effektoren zu erreichen. Eine Läsion der ipsilateralen sympathischen Fasern kann zum Verlust von Erröten und Anhidrose der gleichen Gesichtshälfte in Verbindung mit kontralateralem übermäßigem Erröten und Schwitzen führen (7). Das Harlekin-Syndrom wird durch eine einseitige Blockade der sympathischen Innervation des Gesichts verursacht, was dazu führt, dass es zu keiner Dilatation der Gefäße der hiervon betroffenen ipsilateralen Gesichtshälfte als Reaktion auf normale Reize kommt. Das Ergebnis ist in der Regel ein einseitiges Fehlen von Gesichtsröte und Anhidrose.

Tabelle 1: Ursachenabklärung bei Harlekin-Syndrom (2)

  • Guillain-Barré-Syndrom
  • Bradbury-Eggleston-Syndrom
  • Diabetische Neuropathie    
  • Hirnstamminfarkt
  • Dissektion der Halsschlagader    
  • "Toxischer Kropf“    
  • Neurinom des oberen Mediastinums    
  • Syringomyelie
  • Multiple Sklerose    
  • Katheterisierung der inneren Halsvene    
  • Iatrogene Auswirkungen invasiver Eingriffe

Das Harlekin-Syndrom bildet sich spontan nicht zurück. Eine Therapie ist aber normalerweise nicht erforderlich. In Einzelfällen können eine Blockade des Ganglion stellatum oder eine Sympathektomie in Betracht gezogen werden. Diese Eingriffe werden kontralateral - auf der von der übermäßigen Hautrötung betroffenen Gesichtsseite durchgeführt. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Behandlung mittels Botolinumtoxin nicht-invasiv und wesentlich schonender ist (3). Auch über den erfolgreichen Einsatz einer Kombinationstherapie von Oxybutynin und Propranolol bei einem Patienten mit idiopathischem Harlekin-Syndrom wird anhand einer Kasuistik berichtet (4).


Literatur

  1. Lance JW, Drummond PD, Gandevia SC, Morris JGL : Harlekin-Syndrom: das plötzliche Einsetzen von einseitigem Erröten und Schwitzen. Zeitschrift für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie. 1988; 51 (5):635–642. Doi: 10.1136/jnnp.51.5.635.
  2. Algahtani H., Shirah B., Algahtani R., Alkahtani A.: Idiopathic Harlequin Syndrome Manifesting during Exercise: A Case Report and Review  4ft he Literature. Case Rep Med 2017:2017:5342593, doi: 10.1155/2017/5342593. Epub 2017 Feb 21.
  3. Manhães RKJV, Spitz M., Vasconcellos LF Botulinumtoxin zur Behandlung des Harlekin-Syndroms. Parkinsonismus und verwandte Störungen . 2016; 23 :112–113.
  4. Naharro-Fernández C1, de Quintana-Sancho A,  López-Sundh A-E1, Reguero-Del Cura L, Gónzalez-López M.A: Successful treatment of idiopathic Harlequin Syndrome with oxybutynin and propranolol. Australas J Dermatol 2021, Nov; 62 (4):504-505.
  5. Lance J.W., Drummond P.D., Gandevia S.C., Morris J.G.L. Harlequin syndrome: The sudden onset of unilateral flushing and sweating. Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 1988; 51: 635-642
  6. Drummond P.D., Lance J.W. Site of autonomic deficit in Harlequin syndrome: local autonomic failure affecting the arm and the face. Annals of Neurology 1993; 34: 814-819.
  7. Mavroudis I, Balmus I-M, Ciobica A, Luca A-C, Chowdhury R, Iordache A-C, et al. Mini-Review on the Harlequin Syndrome—A Rare Dysautonomic Manifestation Requiring Attention. Medicina. 2022; 58:938.