Weiterführende Informationen und Differentialdiagnostik zur Zertifizierten Kasuistik: Progrediente Schwäche der Beine nach Chemo- und Strahlentherapie
Folge 77 der Reihe Zertifizierte Kasuistik
von Dirk Sander
Fallauflösung
In der vorliegenden Kasuistik entwickelte sich bei der Patientin eine subakut progrediente und linksbetonte Schwäche beider Beine. Klinisch-neurologisch fielen eine linksbetonte Hüftbeuge- und Adduktorenschwäche beidseits sowie diskrete Parästhesien der Fußsohlen beidseits. auf. Das freie Gehen war nicht mehr möglich. Da unter suffizienter oraler Antikoagulation zunächst weder ein EMG noch eine Lumbalpunktion möglich waren, erfolgte - nach Ausschluss einer zentralen Ursache und fehlenden Hinweisen auf einen Bandscheibenvorfall oder eine neuroforaminale Enge - bei initialem V.a. ein erregerbedingtes Geschehen zunächst eine empirisch kalkulierte antibiotische und antivirale Therapie mit Aciclovir intravenös und Ceftriaxon intravenös.
Das MRT des Beckens ergab folgenden Befund: Vorbekannte große, prall gefüllte Harnblase. Im Verlauf des Plexus lumbo-sacralis keine Raumforderung, kein pathologisches KM-Enhancement. Unspezifisches Ödem im Musculus iliacus und in den Adduktorenmuskeln beidseits, geringfügig auch im kranialen Musculus gluteus medius beidseits. Differentialdiagnostisch muss eine Denervierung, Stressreaktion, Strahlenödem oder andere Genese erwogen werden.
Aufgrund der im MRT nachweisbaren Ödeme wurde differentialdiagnostisch eine strahleninduzierte Plexopathie bei Bestrahlung 10 Monate vor Beginn der Symptomatik aufgrund eines Anal-Karzinoms in Erwägung gezogen.
Nach Normalisierung der Gerinnung bei initialer OAK wurde zeitverzögert die Lumbalpunktion durchgeführt. Diese ergab eine normale Zellzahl, eine leichte Eiweißerhöhung und eine erregerspezifische intrathekale IgG-Produktion gegen Varizella-Zoster-Virus (VZV). Weder im Liquor noch in der ausführlichen Labordiagnostik fanden sich Hinweise auf eine paraneoplastische, vaskulitische oder autoimmune Ursache der Symptomatik. Auch die Lyme-Diagnostik war unauffällig. Elektrophysiologisch zeigte sich eine akute Plexopathie des oberen Plexus lumbo-sacralis mit linksseitiger Betonung.
In der Zusammenschau aller Befunde wurde dann die Diagnose einer VZV-assoziierten lumbalen Plexopathie gestellt, auch wenn die MRT-Darstellung des Plexus kein KM-Enhancement im Verlauf des Plexus lumbalis zeigte.
Die lumbosakrale VZV-Plexopathie stellt eine seltene Ursache für eine subaktute proximal betonte Parese der unteren Extremitäten dar, deren Diagnose insbesondere bei Fehlen der typischen Effloreszenzen eine Bildgebung, Elektrophysiologie und vor allem eine Liquorodiagnostik erfordert [1-4].
Die Symptomatik wird durch die Reaktivierung des Varizella-Zoster-Virus nach mehreren Jahrzehnten aufgrund einer geschwächten zellulären Immunreaktion verursacht. Das latente neurotrope VZV infiziert die Neuronen initial durch Membranfusion oder Endozytose [1]. Seine Reaktivierung erfolgt durch antegraden intra-axonalen Transport zur Synapse. Durch einen antegraden intra-axonalen Transport vom Ganglion des Hinterhorns und einen trans-synaptischer Transport über Interneurone zur Vorderhornzelle im Rückenmark kann auch die Funktion der Motoneurone beeinträchtigt werden [5]. Der charakteristische vesikuläre dermatomale Ausschlag entsteht durch die VZV-Reaktivierung. Den akuten vesikulären Effloreszenzen gehen häufig Schmerzen im entsprechenden Dermatom voraus.
Psychischer Stress, Operationen, Trauma, Immunschwäche und maligne Erkrankungen können Ursachen für eine Reaktivierung sein [6]. Die Virusreaktivierung betrifft in der Regel Menschen jenseits des 50. Lebensjahres, wobei 20 bis 30 Prozent der Allgemeinbevölkerung betroffen sind. Bei immungeschwächten Personen besteht ein um 80 bis 90 Prozent erhöhtes Risiko [7].
Eine diffuse Beteiligung des lumbosakralen Plexus kann bei etwa 20 Prozent der Reaktivierungen im lumbosakralen Bereich auftreten [8], wobei eine Affektion motorischer Neuronen mit Parese auftreten kann [4], die als segmentale Zoster-Parese bekannt ist [1]. Motorische Neuropathien und Paresen, die entweder auf eine Plexopathie oder eine einzelne Neuropathie zurückzuführen sind, treten bei 1 bis 20 Prozent der bestätigten VZV-Reaktivierungen auf [9].
Radikuläre Schmerzen in Kombination mit motorischer Schwäche können andere Wirbelsäulenpathologien imitieren und die Diagnose erschweren, insbesondere wenn keine klassischen kutanen Manifestationen vorliegen. Zu den häufig betroffenen Spinalnerven gehören C5-7 und L2-4.
Die MR-Bildgebung kann zur Identifizierung von abnormen Plexussignalen verwendet werden. Ihr Nutzen liegt jedoch hauptsächlich im Ausschluss anderer Ursachen für die neurologische Symptomatik. Die MR-Sensitivität für den Nachweis einer Plexopathie liegt in der Größenordnung von 70 Prozent [10]. Bei der VZV-Plexopathie kann die KM-Aufnahme trotz Symptomatik - wie auch bei unserer Patientin - fehlen, sodass es sich dabei wahrscheinlich um ein transientes Phänomen in der perakuten Phase handelt [10].
Die Liquor-PCR zum Nachweis von VZV-DNA kann zwar schnell durchgeführt werden, ist aber nachweislich nur begrenzt empfindlich, wenn es darum geht, das Vorhandensein einer Pathologie des zentralen Nervensystems festzustellen [11]. In Bezug auf die Bestätigung einer Infektion haben serologische Liquortests eine höhere Empfindlichkeit [11, 12].
Verlauf
Unter der intravenösen Therapie mit Aciclovir, einer initialen Stoßtherapie mit Methylprednisolon (1000 mg. intravenös über 3 Tage) gefolgt von einer gewichtsadaptierten Metylprednisolongabe (initial 1 mg pro kg KG) mit schrittweiser Reduktion kam es zu einer langsamen Besserung der Symptomatik. Die Patienten wurde in eine weiterführende neurologische Rehabilitationsklinik verlegt und war 12 Wochen nach der Symptomatik mit nur noch leichten Einschränkungen wieder gehfähig.
Die antivirale Therapie bleibt die Hauptstütze in der Behandlung der akuten VZV-Neuropathie und -Plexopathie. Weitere Untersuchungen zum frühen Einsatz von Kortikosteroiden sind erforderlich. Kleinere Studien, in denen Kortikosteroide mit einer antiviralen Therapie kombiniert wurden, deuten auf eine schnellere Abheilung akuter kutaner Herpes-Zoster-Läsionen (<72 Stunden) hin, allerdings scheint die zusätzliche Gabe von Kortikosteroiden keine Auswirkungen auf das Risiko der Entwicklung einer postherpetischen Neuralgie zu haben [13].
Es gibt nur wenige veröffentlichte Fallberichte und Serien, die eine mit VZV assoziierte Plexopathie der unteren Gliedmaßen beschreiben [8], was wahrscheinlich auf die Seltenheit der Erkrankung zurückzuführen ist. Daher gibt es keine einheitlichen Empfehlungen für die optimale Therapie, insbesondere im Hinblick auf die Verringerung des Risikos einer Post-Zoster-Neuralgie.
Differentialdiagnose
Bei der Patientin erfolgte 10 Monate vor Beginn der Symptomatik eine Strahlentherapie der Beckenregion aufgrund eines Analkarzinoms, so dass differentialdiagnostisch auch an eine strahleninduzierte Plexopathie gedacht wurde. Diese ist durch die modernen Techniken in der Strahlentherapie allerdings seltener geworden und wurde insbesondere für den Plexus brachialis nach Bestrahlung bei Mamma-Ca beschrieben [14]. Strahlenbedingte Schädigungen und Neuropathien können in akute, subakute und späte Phasen eingeteilt werden [15]. Die Strahlenneuropathie tritt häufig in der subakuten Phase 4 bis 12 Monate nach einer Strahlentherapie auf und lässt sich auf eine meist transiente Demyelinisierung durch eine strahleninduzierte Hemmung von Myelinscheiden bildenden Zellen zurückführen [15].
Weitere mögliche Differentialdiagnosen sind - insbesondere bei Fehlen der typischen Effloreszenzen - die (sub)akute Myelon- oder Nervenwurzelkompression durch einen Diskusprolaps oder massive degenerative Veränderungen der unteren BWS oder der LWs oder metastatische Prozesse mit entsprechender Kompressionswirkung. Hier ist die MRT-Bildgebung von wesentlicher Bedeutung zum Ausschluss dieser Ursachen.
Auch an eine Plexopathie aufgrund einer direkten Metastaseninfiltration sollte gedacht werden und eine entsprechende Bildgebung erfolgen. Eine proximale diabetische Amyotrophie [16] führt zu einer in der Regel unilateralen proximalen Parese insbesondere der von oberen Plexus lumbalis-Anteilen versorgten Muskulatur. Auch ein retroperitoneales Hämatom, ein Trauma oder eine post-partale Blutung kann zu einer Plexusaffektion führen. Inflammatorische, autoimmun oder infektiös vermittelte Plexopathien treten demgegenüber deutlich seltener auf [3].
Abschließende Beurteilung
Bei der Patientin fand sich als Ursache ihrer Symptomatik eine VZV-assoziierte lumbosakrale Plexopathie. Diese stellt eine seltene und möglicherweise unterdiagnostizierte Erkrankung dar, insbesondere wenn keine typischen vesikulären Effloreszenzen nachweisbar sind. Diagnostisch hinweisend ist das Fehlen anderer Ursachen in der lumbalen MRT-Bildgebung, der mögliche Nachweis einer Kontrastmittelanreicherung im Bereich der Plexusfasern sowie der Nachweis einer erregerspezifischen VZV- Antikörperproduktion sowie entsprechende elektrophysiologische Befunde.
Therapie der Wahl ist die antivirale Therapie mit Aciclovir oder Ganciclovir. Ob die zusätzliche Gabe von Steroiden den Verlauf verbessert, ist nicht ausreichend untersucht.
Dieser Fallbericht unterstreicht die Wichtigkeit, die VZV-Plexopathie als seltene Ursache einer (sub)akuten lumbalen Plexopathie mit oder ohne Hautausschlag in die Differentialdiagnose einzubeziehen, insbesondere wenn keine kompressive Ätiologie wie zum Beispiel ein Bandscheibenvorfall vorliegt.
Literatur
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