Weiterführende Informationen und Differentialdiagnostik zur Zertifizierten Kasuistik "Thrombopenie und Anämie "
wissenschaftlich begutachtet durch Professor Dr. Malte Ludwig, Chefarzt der Abteilung Angiologie und Phlebologie der Interne Klinik Dr. Argirov, Berg.
von Dr. Peter Walger
Inhalt
Therapieschema zum Thema "Thrombopenie und Anämie"
Pathophysiologie und Klinik
Das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS) und die thrombotisch thrombopenische Purpura (TTP) werden als akute Syndrome angesehen, bei denen wesentliche Essentials weitgehend übereinstimmen. Beiden gemeinsam ist die Kombination aus Thrombopenie und mikroangiopathischer hämolytischer Anämie. Bei beiden lassen sich identische pathologische Veränderungen am Kapillarsystem nachweisen. Beide Syndrome werden initial identisch durch einen Plasmaaustausch behandelt. Patienten mit neurologischen Symptomen werden eher einer TTP, Patienten mit Nierenversagen eher einem HUS zugeordnet. Ein hoher Anteil von TTP-Patienten zeigt pathologische renale Veränderungen.
Aus einem weiten Spektrum unterschiedlicher Ätiologien lässt sich eine Form von HUS vorwiegend bei Kindern nachweisen, bei denen eine durch enterohämorrhagische E. coli (EHEC) verursachte Enterocolitis dem Krankheitsbild vorausgeht. Erstmals 1982 kam es zu zwei Ausbrüchen von hämorrhagischen Diarrhoen nach Genuss von Rindfleisch in Hamburgern in Oregon und Michigan (USA), in deren Verlauf als ätiologisches Agens ein obligat pathogener E. coli des Serotyps O157:H7 entdeckt und als enterohämorrhagischer E. coli (EHEC) beschrieben wurde.
Der pathophysiologische Prozess des Thrombozytenverbrauchs beginnt mit einer endothelialen Schädigung und Aktivierung der Thrombozytenaggregation und führt damit sekundär zur mechanisch-hämolytischen Zerstörung der Erythrozyten im Sinne einer mikroangiopathischen Hämolyse. Die auslösenden Faktoren sind nicht einheitlich gleich.
Bei einem Teil der TTP/HUS-Patienten lässt sich ein Mangel einer spezifischen Protease, die multimere Vorformen des von-Willebrand-Faktors spaltet, nachweisen (cleaving protease bzw. cleaving metalloprotease, heute ADAMTS-13 genannt). Der von-Willebrand-Faktor (vWF) wird in Endothelzellen synthetisiert und liegt primär in Form großer Multimere (Unusually Large vWF, ULvWF) vor. Das cleaving enzyme ADAMTS-13 spaltet ULvWF in normal große vWF-Multimere unmittelbar nach Übertritt in die Zirkulation. Erst in dieser Form kann der vWF seine physiologische Aufgaben als Mediator in der primären und sekundären Hämostase erfüllen. Mutationen des ADAMTS-13 Gens führen zu einem manifesten Mangel der Cleaving-Protease-Aktivität und damit zu einer Akkumulation von ULvWF-Multimeren mit konsekutiver Thrombozyten-Aggregation, endothelialer Schädigung und Thrombenbildung unter Thrombozytenverbrauch, den charakteristischen Pathomechanismen der TTP.
Bei einem anderen Teil der HUS/TTP-Patienten lässt sich ein Autoantikörper gegen ADAMTS-13 nachweisen, der zur Inaktivierung der Cleaving-Aktivität führt. Es wird postuliert, dass diese Form von HUS/TTP Teil eines zugrunde liegenden autoimmunologischen Komplexes ist.
Es ist bislang nicht geklärt, ob sich der Nachweis einer ADAMTS-13-Defizienz dazu eignet, zwischen HUS und TTP zu diskriminieren, da es im Gegensatz zu den TTP-Patienten nur bei wenigen HUS-Patienten gelingt, einen ADAMTS-13 Mangel nachzuweisen. Im Falle eines ADAMTS-13 Mangels dominieren nach gegenwärtigem Kenntnisstand eher neurologische Symptome im Sinne einer TTP, wohingegen bei normaler ADAMTS-13 Aktivität neurologische Symptome eher fehlen und renale Pathologien im Sinne eines HUS dominieren. Klinisch wird im ersteren Fall entsprechend TTP, im letzteren Fall HUS diagnostiziert.
Es gibt eine Reihe von Zuständen bzw. Krankheitsbildern, die mit reduzierten ADAMTS-13 Aktivitäten und möglicherweise deshalb mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, an HUS/TTP zu erkranken, assoziiert sind.
Hierzu gehören unter anderem
- Sepsis,
- schwere Infektionen,
- Leukämien,
- andere Neoplasien,
- Kollagenosen wie unter anderem systemischer Lupus erythematodes, Leberzirrhose, Urämie,
- verschiedene Chemotherapien,
- Stammzelltransplantationen,
- Therapie mit Cyclosporin und einigen anderen Medikamenten,
- der Neugeborenenstatus und
- die beiden letzten Trimester der Schwangerschaft.
Bei HUS/TTP Patienten mit normaler ADAMTS-13 Aktivität werden andere Pathomechanismen wie zum Beispiel
- endotheliale Schädigungen,
- erhöhte Aggregationsneigung der Thrombozyten oder
- genetische Faktoren
diskutiert. So sind einige Medikamente wie Ticlopidin, seltener Clopidogrel oder Chinine durch spezielle endotheliale Schädigungen in der Lage, TTP/HUS auszulösen. Auch toxische Effekte am Endothel oder an den Thrombozyten wie zum Beispiel durch das Shiga-Toxin bei EHEC-assoziierter Enterocolitis können zu HUS führen.
Ätiologisch kann ein wesentlicher Anteil von TTP/HUS-Patienten keiner weiteren Ursache zugeordnet werden und wird entsprechend „idiopathisch“ genannt. Eine aktuelle Einteilung der Ursachen von TTP/HUS zeigt die Tabelle 1:
Tabelle 1
Ursachen für thrompotisch thrombopenische Purpura / hämolytisch urämisches Syndrom (TTP/HUS)
- hämolytisch urämisches Syndrom bei Kindern
- nach Infektionen mit Enterohämorrhagischem E. coli (EHEC)
- idiopathisch (selten)
- thrompotisch thrombopenische Purpura / hämolytisch urämisches Syndrom bei Erwachsenen
- idiopathisch (häufig)
- medikamentös toxisch (Mitomycin C, Bleomycin, Cisplatin, Gemcitabin, Cyclosporin, Tacrolimus, Chinine, Ticlopidin, Clopidogrel, frgl. orale Kontrazeptiva, Valacyclovir)
- im Kontext von Stammzelltransplantation (Abgrenzung zu Sepsis oder Graft Versus Host Reaktion schwierig)
- während Schwangerschaft und postpartal (Abgrenzung zu Eklampsie-Präeklampsie-HELLP-Syndrom schwierig)
- autoimmunologisch (besonders bei Antiphospholipid-Syndrom oder Systemischem Lupus erythematosus oder Sklerodermie)
- AIDS und frühe symptomatische HIV-Infektion
- Nach EHEC-assozierten hämorrhagischen Diarrhoen (typischerweise E. coli O157:H7)
(Tabelle 1 nach BD Rose und JN George. Diagnosis of thrombotic thrombocytopenic purpura-hemolytic uremic syndrome in adults. 2007 UpToDate, USA)
Das klinische Bild von TTP/HUS zeigt folgende Charakteristika:
- Mikroangiopathische hämolytische Anämie
(Fragmentozyten, negativer Coombs-Test) - Thrombozytopenie
(oft mit Purpura, selten schwere Blutungen) - Akutes Nierenversagen
(alle Stadien bis hin zum anurischen, dialysepflichtigen Nierenversagen) - Neurologische Abnormalitäten, häufig fluktuierend
(weites Spektrum: Koma, Apoplex, Migräne etc.) - Fieber
- gelegentlich abdominelle Beschwerden
- gelegentlich weitere Organbeteiligungen (Pankreas, Herz)
Die mikroangiopathische hämolytische Anämie ist eine nicht immunologische Hämolyse. Die diagnostischen Parameter sind eine erhöhte Fragmentozytenzahl (üblicherweise > 1 %), eine erhöhte LDH, bei sehr starker Hämolyse zusätzlich erhöhtes indirektes Bilirubin, erniedrigtes Haptoglobin (bei fehlender entzündlicher Akut-Phase-Reaktion) sowie ein erniedrigtes Hämoglobin. Die Thrombopenie variiert erheblich und ist bei TTP- stärker ausgeprägt als bei HUS-Patienten. Aus publizierten Fallserien werden Thrombozytenzahlen zwischen 5.000 und 120.000/µl, im Mittel bei 23.500/µl oder von 35.000/µl im Mittel bei TTP und von 95.000/µl bei HUS beschrieben.
Die akute Niereninsuffizienz ist häufig mit einer geringen Proteinurie von 1 – 2g/24 h assoziiert. Überlappende Manifestationen einer Glomerulonephritis oder Vaskulitis sind möglich.
Eine chronische Niereninsuffizienz persistiert in bis zu 25 Prozent der Patienten mit TTP/HUS.
Die neurologischen Symptome umfassen ein weites Spektrum von fluktuierenden Kopfschmerzen, Migränezuständen, Verwirrtheiten, epileptischen Anfällen, fokalen Ischämien bis hin zu komatösen Zuständen.
Differentialdiagnose
Hohes Fieber mit oder ohne Schüttelfrost sollte immer Anlass geben, differentialdiagnostisch eine Infektion / Sepsis auszuschliessen. Bei der Verbrauchskoagulopathie (disseminierte intravasale Coagulopathie, DIC) dominieren die Symptome der auslösenden Grundkrankheit zum Beispiel einer Sepsis. Es finden sich in der Regel zusätzliche Störungen der plasmatischen Gerinnung. Eine Thrombopenie im Rahmen einer Heparin induzierten Thrombopenie (HIT) geht ohne die begleitende mikroangiopathische Hämolyse einher. Bei einem Evans-Syndrom sind die Thrombopenie und die hämolytische Anämie auto-immunologisch getriggert. Der Coombs-Test ist positiv. Bei der Immunthrombozytopenie (ITP, Morbus Werlhoff) fehlt eine begleitende Hämolyse. Thrombopenien im Rahmen von malignen Systemerkrankungen oder metastasierenden Neoplasien werden durch die Tumordiagnostik erfasst. In Einzelfällen kann die Abgrenzung schwierig sein.
An Organbeteiligungen bei TTP/HUS muss differentialdiagnostisch bei entsprechenden Hinweisen gedacht werden. Beschrieben sind Pankreatitiden, ophthalmologische Komplikationen, Niereninfarkte, Gastroenteritiden, retroperitoneale und sonstige Einblutungen. Eine kardiale Beteiligung ist nicht ungewöhnlich, es kann zu akuten Herzinfarkten, transienten Arrhythmien und zu akuter Herzinsuffizienz kommen. Die typischen Laborbefunde sind in Tabelle 2 aufgeführt.
Tabelle 2
Typische Laborbefunde bei TTP/HUS
- Anämie
- Thrombopenie
- Retikulozytose
- Normale oder erhöhte Leukozyten, kein auffälliges Differential-Blutbild
- Erhöhte Fragmentozyten Zahl (> 1%)
- Erhöhte LDH
- Erhöhtes indirektes Bilirubin (fakultativ)
- Reduziertes oder fehlendes Haptoglobin (nur bei fehlender Akut-Phase-Reaktion)
- Erhöhtes Kreatinin (obligat bei HUS)
- Unauffälliger Gerinnungsstatus
- Negativer Coombstest
Therapie
Unbehandelt verlaufen TTP und HUS progredient. Mortalitätsraten bis zu 90 Prozent sind beschrieben. Die Therapie der Wahl ist der unverzügliche Plasmaaustausch gegen fresh-frozen Plasma (FFP). Der Plasmaaustausch sollte unmittelbar bereits bei Verdacht auf TTP/HUS begonnen werden, auch wenn noch Unsicherheiten in der Diagnosesicherung bestehen. Die Kombination von mikroangiopathischer hämolytischer Anämie und Thrombopenie bei fehlenden Hinweisen auf eine alternative Diagnose reicht aus, die Verdachtsdiagnose TTP/HUS zu stellen und eine Indikation zum Plasmaaustausch zu stellen.
Ziele des Plasmaaustausches sind die Elimination der untypisch großen von-Willebrand-Faktor Multimeren (ULvWFM), die Elimination eventuell vorhandener Autoantikörper gegen ADAMTS-13 und der Ersatz des möglicherweise fehlenden ADAMTS-13 durch die infundierten FFP’s.
Diese Therapie kann mit entsprechender Indikation durch eine immunsuppressive Medikation ergänzt werden. Indikationen sind die idiopathische Form von TTP/HUS, fehlende Hinweise auf eine Medikamenten-induzierte oder Stammzelltransplantations-assoziierte Form, fehlendes Ansprechen auf den alleinigen Plasmaaustausch oder positiver Nachweis der Anti-ADAMTS-13-Antikörper. Stellen sich im Verlauf Befunde einer alternativen Diagnose heraus, wird der Plasmaaustausch sofort beendet.
Bei Kindern mit EHEC-assoziiertem HUS wird der Plasmaaustausch nur bei schweren Verläufen empfohlen, da diese Erkrankung in den meisten Fällen spontan abheilt. Bei TTP/HUS-ähnlichen Syndromen im Kontext von Stammzelltransplantationen oder speziellen Chemotherapien ist die aktuelle Datenlage zur Effektivität eines sofortigen Plasmaaustausches nicht eindeutig.
Steht die Option zum Plasmaaustausch nicht sofort zur Verfügung, kann bis zu ihrer Bereitstellung initial unter Berücksichtigung der Volumenbelastung FFP gegeben werden. Gelegentlich kann hiernach bereits ein Anstieg der Thrombozytenzahl gesehen werden.
Unter den Bedingungen des Plasmaaustausches werden pro Liter entfernten Plasmas 4 FFP infundiert.
Die zusätzliche immunsuppressive Therapie erfolgt initial mit Steroiden. Sie wird nicht vom Nachweis spezifischer Anti-ADAMTS-13-Antikörper bzw. erniedrigter ADAMTS-13-Aktivitäten abhängig gemacht. Es reichen die oben genannten Indikationen entsprechend der ätiologischen Zuordnungen. In den Fällen, in denen es nach einigen Tagen Plasmaaustausch nicht zum Thrombozytenanstieg kommt, sollte in jedem Fall die Steroidtherapie begonnen werden. Bei therapierefraktärem Verlauf oder bei Rezidiven kann die immunsuppressive Therapie intensiviert werden. Anekdotische Berichte über erfolgreiche Konzepte liegen für Cyclophosphamid, Azathioprin, Rituximab oder Cyclosporin vor. Cyclosporin selbst kann allerdings auch für TTP/HUS-Syndrome verantwortlich sein (siehe Therapieschema nach George JN. How I treat patients with TTP/HUS. Blood 2000;96:1223).
Nicht zu empfehlen sind medikamentöse Strategien ohne gleichzeitigen Plasmaaustausch wie alleinige Steroid-Gabe oder Thrombozyten-Aggregationshemmende Strategien. Ein Thrombozytentransfer ist prinzipiell kontraindiziert, da der zugrunde liegende Pathomechanismus eher stimuliert wird und eine Zunahme der klinischen Manifestationen zu erwarten ist. Bei schwersten thrombopenischen Blutungen kann ein Transfer erforderlich werden.
Verlauf
Bei der hier beschriebenen Patientin erfolgte täglich eine Hämofiltration im Wechsel mit einem Plasmaaustausch gegen FFP. Erst am sechsten Tag begannen die Thrombozytenzahlen zu steigen, wohingegen sich die hämolytischen Parameter bereits am zweiten Tag normalisierten. Verkomplizierend kam es im Verlauf zu einer retroperitonealen Einblutung sowie zu einem Hämatothorax. Rezidivierende Thrombopenien mit ansteigenden Hämolyseparametern deuteten auf eine anhaltende Aktivität des zugrunde liegenden Pathomechanismus hin und erforderten einen fortgesetzten Plasmaaustausch. Nach Stabilisierung des Hämolytisch Urämischen Syndroms persistierte das dialysepflichtige Nierenversagen. Ätiologisch konnten bei fehlendem EHEC-Nachweis im Stuhl signifikant pathologische EHEC-Antikörper-Titer im Serum nachgewiesen werden.
Die abschliessende Diagnose lautete:
EHEC-assoziiertes hämolytisch urämisches Syndrom bei einem erwachsenen Patienten mit irreversiblem dialysepflichtigen Nierenversagen. Die Diagnose wurde entsprechend der Falldefinition nach dem Infektionsschutzgesetz amtlich gemeldet.
Literatur
Riley LW et al. Hemorrhagic colitis associated with a rare Escherichia coli serotype. N Engl J Med 1983;308:681
Levine MM et al. Escherichia coli that cause diarrhoe: Enterotoxigenic, enteropathogenic, enteroinvasive, enterohemorrhagic, and enteroadherent. J Infect Dis 1987;155:377
Vesely SK et al. Long term clinical outcomes of TTP/HUS-Syndrome among different patient groups. Blood 1999;94:15a
George JN. How I treat patients with TTP/HUS. Blood 2000;96:1223