Afghanistan, Syrien, Jemen, Sudan, zuletzt die Ukraine und Gaza – in Kriegen und Konflikten hat die Weltgesundheitsorganisation allein im vergangenen Jahr 1.300 Übergriffe auf Gesundheitseinrichtungen, medizinisches Personal und Patienten gezählt. Das humanitäre Völkerrecht verbietet solche Angriffe. Dennoch gehören sie inzwischen fast zum Alltag.
von Heike Korzilius
Der junge Vater tritt verzweifelt das Gaspedal durch. Auf dem Rücksitz wimmert seine kleine Tochter. Sie blutet aus einer Bauchwunde. Das Auto rast durch eine ausgetrocknete Landschaft, dann durch eine zerbombte Stadt. Der Verkehr wird dichter, gerät ins Stocken, das verwundete Mädchen wird zusehends schwächer. Der Vater schöpft neue Hoffnung, als ein Schild den Weg zum nahen Krankenhaus weist. Er stoppt den Wagen, greift das bewusstlose Kind, läuft auf die rettende Klinik zu und muss erkennen, dass sie nur noch aus einem Haufen rauchender Trümmer besteht.
„Kein Krankenhaus. Keine Hoffnung.“, heißt es am Ende des kurzen Films. Er stammt aus dem Jahr 2020 und wurde im Rahmen der Kampagne #NotATarget (Keine Zielscheibe) gedreht. Die Kampagne ist Teil der Health Care in Danger Initiative, die das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bereits im Sommer 2011 ins Leben gerufen hat, um sich mit der wachsenden Bedrohung medizinischer Hilfe insbesondere in Kriegs- und Krisengebieten auseinanderzusetzen.
Gut 1.300 Angriffe auf medizinische Einrichtungen, Gesundheitspersonal, Krankenwagen sowie Patientinnen und Patienten hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) allein im vergangenen Jahr gezählt. Mehr als 700 Menschen haben dabei ihr Leben verloren, fast 1.200 wurden verletzt. Dabei ist die Art der Übergriffe vielfältig. Ärzte und Pfleger werden attackiert, Patienten am Zugang zu medizinischen Einrichtungen gehindert, Krankenwagen an Checkpoints an der Weiterfahrt gehindert oder Krankenhäuser bombardiert und geplündert mit der Folge, dass ganze Regionen auch langfristig von der medizinischen Versorgung abgeschnitten sind. Um die Dimension des Problems zu erfassen, sammelt die UN-Organisation seit 2015 Daten über derartige Übergriffe und veröffentlicht sie tagesaktuell auf ihrem SSA-Dashboard (Surveillance System for Attacks on Health Care). 2023 waren 19 Staaten besonders von Gewalt gegen Krankenhäuser, Ambulanzfahrzeuge, Ärzte und Pflegekräfte betroffen. Ganz oben auf der Liste stehen Gaza und das Westjordanland (771 Angriffe), die Ukraine (209), Myanmar (66) und der Sudan (61).
Respekt vor Völkerrecht einfordern
Die Health Care in Danger Initiative der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung versucht derweil nicht nur mit gezielten Kampagnen wie #NotATarget, Politik und Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren. In ihrem Rückblick auf zehn Jahre Health Care in Danger, der im März 2023 erschien, schreibt die Initiative, sie habe ihren strategischen Fokus verlagert: von der Erarbeitung von Empfehlungen und Leitlinien hin zu konkreten Aktionen. Vor diesem Hintergrund hat sie vier Handlungsfelder identifiziert: So gelte es, vor Ort den Respekt von Streitkräften, Milizen und anderen Kämpfern gegenüber der medizinischen Versorgung durch Schulungen zu fördern oder auch mithilfe von Sanktionen durchzusetzen. Bei den politisch Verantwortlichen müsse man dafür werben, die humanitäre Hilfe durch entsprechende Gesetzgebung zu schützen. Medizinisches Personal sowie andere humanitäre Helferinnen und Helfer müssten geschult werden, damit sie sich und ihre Einrichtungen, aber auch mobile Teams und Ambulanzen besser vor Gewalt schützen und Konflikte deeskalieren könnten. Nicht zuletzt müsse der gesellschaftliche Respekt gegenüber den im Gesundheitswesen Tätigen in betroffenen Ländern und Regionen gestärkt werden.
Die Health Care in Danger Initiative sieht inzwischen erste Erfolge ihrer Arbeit. Gewalt gegen medizinische Hilfe habe eine hohe Priorität auf diplomatischer Ebene erlangt. Zudem engagierten sich multilaterale Organisationen wie die WHO, humanitäre Hilfsorganisationen wie MSF und die Safeguarding Healthcare in Conflict Coalition, der neben dem IKRK auch der Weltärztebund als Beobachter angehören, für das Thema. Trotz dieser Fortschritte müsse man einräumen, dass die Gewalt vor Ort nach wie vor ein Problem sei, hießt es in der Health Care in Danger Strategie für 2020 bis 2022. Es müsse jetzt darum gehen, in den betroffenen Ländern und Regionen „Normen in praktisches Handeln und Verhaltensänderungen zu überführen“.
Tankred Stöbes Analyse fällt ähnlich aus: „Wir müssen verhindern, dass Gewalt gegen medizinische Einrichtungen und humanitäre Helfer ein Stück weit Normalität wird.“ Die große öffentliche Empörung, die Angriffe auf Krankenhäuser oder humanitäre Helfer vor fünf oder zehn Jahren ausgelöst hätten, gebe es nicht mehr in dem Maße. „Das ist neu“, sagt Stöbe.
Prinzipien der Humanitären Hilfe
Organisationen wie das Rote Kreuz, der Rote Halbmond oder „Ärzte ohne Grenzen“, die im Kriegs- und Katastrophenfall Hilfe leisten, haben sich in Anlehnung an die Genfer Konventionen den grundlegenden humanitären Prinzipien der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität verschrieben:
Unparteilichkeit: Jeder Mensch in akuter Not hat ein Recht auf Hilfe, ungeachtet seiner Nationalität, Religion, sozialen Stellung oder politischen Überzeugung.
Unabhängigkeit: Humanitäre Organisationen handeln unabhängig von politischer oder militärischer Einflussnahme. Sie bewahren sich auch finanziell einen Grad an Eigenständigkeit, der es ihnen ermöglicht, nach humanitären Prinzipien zu handeln.
Neutralität: Humanitäre Organisationen ergreifen in Kriegs- und Krisensituationen nicht Partei. Nur so ist gewährleistet, dass sie allen Bedürftigen helfen können.
Die humanitären Organisationen begreifen die Einhaltung der humanitären Prinzipien auch als Gewähr für die Sicherheit der eigenen Mitarbeiter und Einrichtungen.