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Thema

Vergessene Kinder

14.12.2022 Seite 12
RAE Ausgabe 1/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 1/2023

Seite 12

Depressionen, Angststörungen, Übergewicht: Kontaktbeschränkungen sowie Schul- und Kitaschließungen haben dazu geführt, dass sich die gesundheitliche Situation und die Lebensqualität vieler Kinder und Jugendlicher seit Beginn der Coronapandemie verschlechtert haben. Experten fordern, dass sich Maßnahmen  zur Krisenbewältigung in Zukunft deutlicher am Kindeswohl orientieren müssen. 

von Heike Korzilius und Martin Bornemeier

Zweimal zwang das Coronavirus das Land in den Lockdown. Im Frühjahr 2020 und im Winter 2021 blieben bundesweit nicht nur Geschäfte, Gaststätten und Hotels, sondern auch Schulen und Kindertagesstätten geschlossen. Die Beschränkung zwischenmenschlicher Kontakte auf das Notwendigste sollte dabei helfen, SARS-CoV-2 einzudämmen. Inzwischen mehren sich jedoch die Stimmen derer, die fragen, ob nicht insbesondere Kinder und Jugendliche unter den Kontaktbeschränkungen über Gebühr gelitten haben. Zumal eine Coronainfektion bei ihnen meist milde verläuft. 

Gesunde Kinder mit akuter COVID-19-Erkrankung hätten in der Regel eine geringe Krankheitslast. Vor allem Kinder im Kindergartenalter wiesen nur wenige Symptome auf, erklärte Professor Dr. Stefan Wirth, bis vor Kurzem Chefarzt des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin am Helios Universitätsklinikum Wuppertal. Er sprach beim 9. Kammerkolloquium Kindergesundheit, das am 19. November im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf stattfand und sich mit den Folgen der COVID-19-Pandemie für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen befasste. Wirth betonte, dass auch die Mortalitätsrate bei Kindern niedrig sei. Angesichts von mehr als 7,3 Millionen Infektionen – bei hoher Dunkelziffer – habe es dem Robert Koch-Institut (RKI) zufolge in der Altersgruppe bis 19 Jahre bislang circa 100 Todesfälle gegeben. Dabei hätten viele der verstorbenen Kinder unter zum Teil schweren Vorerkrankungen gelitten. Die indirekten Folgen der Pandemie für die körperliche und psychische Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher seien dagegen zum Teil dramatisch. Ein Lockdown verlängere zwangsläufig die Zeit, die diese zu Hause verbringen, weil Schulen und Kitas ebenso geschlossen seien wie Sportstätten und Spielplätze. Statt Fußball zu spielen oder sich anderweitig zu bewegen, hätten viele Kinder die Zeit vor dem Fernseher oder dem Computer verbracht mit der Folge, dass die Zahl der adipösen Kinder deutlich zugenommen habe. 
 

Effekt von Schulschließungen ungewiss

Auch die Kleineren hätten unter der sozialen Isolation gelitten. „Ein Jahr reicht aus, damit bei Kindern im Vorschulalter der Förderbedarf mit Blick auf die sprachliche, motorische und sozio-emotionale Entwicklung steigt“, so Wirth. Das gelte insbesondere für Kinder aus bildungsfernen Familien in schwierigen sozialen Verhältnissen. In allen Altersgruppen habe sich zudem gezeigt, dass sich vor allem der Gesundheitszustand bereits vorbelasteter Kinder und Jugendlicher in der Pandemie weiter verschlechtert habe.

Grundschulen waren während der Coronapandemie im Schnitt 64 Tage vollständig geschlossen, Sekundarschulen 84 Tage. Das geht aus dem Bericht des Sachverständigenausschusses der Bundesregierung zur Evaluation der Pandemiemaßnahmen hervor, den dieser Ende Juni vorgelegt hat. Damit liegt Deutschland den Experten zufolge im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Kitas seien hingegen mit 61 Tagen häufiger komplett geschlossen gewesen als im Schnitt der untersuchten OECD- und Partnerländer mit 55 Tagen. Dabei lässt sich der Beitrag, den die Schul- und Kitaschließungen zur Eindämmung der Pandemie geleistet haben, nach Ansicht der Sachverständigen – trotz biologischer Plausibilität – nicht exakt beziffern. Die Datenlage reiche nicht aus, um die genaue Wirksamkeit zu bemessen. Zum einen fehle ganz grundsätzlich eine systematische Begleitforschung zu einmal getroffenen Maßnahmen. Zum anderen sei neben den Schließungen in den Schulen und Kitas eine ganze Reihe von Instrumenten zur Pandemiebekämpfung gleichzeitig zum Einsatz gekommen, darunter Maskenpflicht, Abstandsregeln und Lüftungskonzepte, was eine Evaluation von Einzelmaßnahmen unmöglich mache. 

Eigenes Laptop, Tablet? Fehlanzeige

Die nicht-intendierten Auswirkungen der Schul- und Kitaschließungen auf das körperliche und seelische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen seien jedoch „nicht von der Hand zu weisen“, heißt es in dem Bericht. Der Distanzunterricht über digitale Plattformen habe insbesondere jüngere Kinder überfordert sowie Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Verhältnissen benachteiligt, die zum Teil nicht über ein eigenes Zimmer, über WLAN, Laptop oder Tablet verfügten. Das habe soziale Ungleichheiten verschärft. Der Sachverständigenausschuss rät deshalb, beim zukünftigen Umgang mit Pandemien das Kinderwohl vorrangig zu berücksichtigen.

Bereits im Februar dieses Jahres hatte der Expertenrat der Bundesregierung zu COVID-19 darauf hingewiesen, dass insbesondere mit Blick auf die sekundäre Krankheitslast bei Kindern und Jugendlichen infolge der Lockdowns Infektionsschutz und soziale Teilhabe sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssten. Schul- und Kitaschließungen sollten in Zukunft allenfalls als ultima ratio in Betracht gezogen werden.
 

Zu einem ähnlichen Schluss kam Anfang November Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf der Grundlage der Corona-Kita-Studie des Deutschen Jugendinstituts und des RKI. Die Kita-Schließungen zu Beginn der Pandemie seien „definitiv medizinisch nicht angemessen“ und in dem Umfang „nach heutigem Wissen nicht nötig“ gewesen, zitiert ihn die Süddeutsche Zeitung. Die Kita-Kinder seien keine wichtigen Treiber der Pandemie gewesen, so Lauterbach. Die Ansteckungsrate habe in den Kitas selbst etwa fünfmal niedriger gelegen als in den Haushalten der betroffenen Familien. Zudem hätten Maßnahmen wie die Bildung von Kleingruppen, das Tragen von Masken durch das Personal sowie regelmäßiges Lüften Wirkung gezeigt. 

Pädiater hatten bereits im Mai 2020 nach dem ersten Lockdown vor erheblichen psychischen und sozialen Konsequenzen durch Schul- und Kitaschließungen gewarnt. „Vor dem Hintergrund dieser Kollateralschäden sollten Schulschließungen, insbesondere über einen längeren Zeitraum, wissenschaftlich gut und nachvollziehbar begründet werden“, schrieben sie im Deutschen Ärzteblatt. Unter anderem verstärkten sich in Phasen ohne Beschulung bereits bestehende Unterschiede im Hinblick auf mathematische und sprachliche Fähigkeiten zwischen Kindern aus niedrigeren und höheren sozioökonomischen Schichten deutlich. 

Über eine Zunahme von psychischen Auffälligkeiten, depressiven Symptomen und Ängsten bei Kindern und Jugendlichen infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie berichtete jetzt in Düsseldorf Professor Dr. phil. Ulrike Ravens-Sieberer, Forschungsdirektorin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie ist Mitautorin der COPSY-Studie (Corona und Psyche), die in mittlerweile fünf Befragungswellen, von denen drei ausgewertet sind, die Auswirkungen der Coronapandemie auf die psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen untersucht. Befragt wurden mehr als 1.500 Eltern mit Kindern im Alter von sieben bis 17 Jahren sowie mehr als 1.000 Kinder und Jugendliche im Alter von elf bis 17 Jahren. 
 

Long-COVID bei Kindern: Noch viele Fragen offen

Über die Ursachen und die Prävalenz von Long-COVID bei Kindern und Jugendlichen weiß man noch wenig. Insgesamt gehe man davon aus, dass ein Viertel der Kinder nach einer Coronainfektion „in irgend­einer Form“ von Long-COVID betroffen sei, sagte Dr. Lynn Eitner, Fach­ärztin für pädiatrische Neurologie an der Universitätsklinik für Kinder und Jugendmedizin in Bochum beim 9. Kammerkolloquium Kindergesund­heit am 19. November in Düsseldorf. Dabei sei das Spektrum der Beschwerden breit und Diagnostik und Therapie ­entsprechend kompliziert. Umso wichtiger sei es, dass die ­unterschiedlichen Fachdisziplinen gut zusammenarbeiteten. Dr. Folke Brinkmann, kommissarische ­Leiterin der Abteilung für pädia­trische Pneumologie am Universitätsklinikum Bochum, wies darauf hin, dass für Long-COVID typische ­Beschwerden wie zum Beispiel Fatigue, Kopfschmerzen oder verminderte Belastbarkeit auch als reine Pandemie­effekte bei nicht coronainfizierten Kindern und Jugend­lichen auftreten (Post-Lockdown-Syndrom). Das ­treffe allerdings nicht auf Beschwerden wie Dyspnoe sowie Geruchs- und ­Geschmacksverlust zu. Auch ­somatosensorische Funktions­störungen des peripheren Nervensystems seien in einer Studie von Eitner an 81 Kindern und Jugend­lichen bei 30 Prozent der Corona­infizierten und nur bei fünf Prozent der Kontrollgruppe nachweisbar ­gewesen. Brinkmann verwies allerdings auch darauf, dass die Selbst­heilungsrate bei Long-COVID bei Kindern und Jugendlichen hoch sei. Nur selten benötigten Betroffene eine spezialisierte soma­tische, psychologische oder ­psychiatrische ­Behandlung.
 

Im Ergebnis fühle sich die Mehrheit der befragten Kinder und Jugendlichen auch eineinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie noch belastet. So habe durch die Kontaktbeschränkungen beispielsweise das Verhältnis zu Freunden gelitten, viele empfänden das Lernen als anstrengender als vor der Pandemie und ein Viertel der Kinder berichte über häufigere Streitigkeiten zu Hause. „Die Lebensqualität der Kinder hat sich im Laufe der Pandemie verschlechtert – psychisch, physisch und sozial“, sagte Ravens-Sieberer. Angstsymptome, von denen 30 Prozent der Befragten berichteten, psychische Auffälligkeiten (48 Prozent) und depressive Symptome (24 Prozent) hätten sich im Winter 2020/2021 im Vergleich zu vor der Pandemie zum Teil verdoppelt. Danach seien die Werte ein wenig gesunken, lägen aber immer noch deutlich über dem vorpandemischen Niveau, wobei Mädchen häufiger betroffen seien als Jungen. Die Inanspruchnahme von Psychotherapie bewege sich hingegen über die Zeit relativ stabil bei sechs Prozent – ein Ergebnis, das im Widerspruch zum Belastungsempfinden stehe. Ravens-Sieberer macht dafür in erster Linie die begrenzten Behandlungskapazitäten verantwortlich.

Wie die Kinder- und Jugendpsychiaterin betonte, hat auch die Zahl der psychosomatischen Beschwerden zugenommen, darunter Einschlafprobleme, Kopfschmerzen sowie Bauch- und Rückenschmerzen. Selbst im Verlauf dieses Jahres sei ein Anstieg der Beschwerden zu verzeichnen gewesen, obwohl zahlreiche Coronamaßnahmen gelockert worden seien. 

Wie zuvor der Pädiater Wirth stellte auch Ravens-Sieberer die besondere Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Familien heraus. Kinder und Jugendliche erlebten die Veränderungen durch die Coronapandemie als besonders belastend, wenn ihre Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss oder einen Migrationshintergrund hätten, sie auf engem Raum lebten oder die Eltern selbst psychisch belastet seien. Diese Risikogruppe habe in den verschiedenen Befragungen eine zwei- bis dreifach so hohe Wahrscheinlichkeit gehabt, psychische Auffälligkeiten, Ängste und depressive Symptome zu entwickeln. Umgekehrt litten Kinder und Jugendliche, die Halt in der Familie fänden und eine feste Alltagsstruktur hätten, weniger häufig an psychischen Auffälligkeiten. Man tue deshalb gut daran, auch das Befinden der Eltern in den Blick zu nehmen, so Ravens-Sieberer. 

Ihr Fazit: In zukünftigen Krisen müssten sich die Maßnahmen zu deren Bewältigung – wie auch vom Expertenrat der Bundesregierung gefordert – am Kindeswohl orientieren. „Das haben wir diesmal nicht geschafft“, so Ravens-Sieberer. Für belastete Kinder und Jugendliche forderte sie rechtzeitige und umfassende Hilfen. Aber sie betonte auch: „Die meisten Kinder werden diese Krise gut überstehen und sich gesund entwickeln.“

Schulsozialarbeit ausbauen

Die Ergebnisse der COPSY-Studie um Ravens-Sieberer nahm die SPD-Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag zum Anlass, die Landesregierung aufzufordern, die Schulsozialarbeit und die Schulpsychologie auszubauen und dauerhaft zu fördern. Zurzeit erfolgt die Zuweisung der Mittel immer nur für ein Schuljahr und auch nur befristet bis zum 31. Juli 2025. Der entsprechende Antrag wurde Mitte November in den Ausschüssen für Gesundheit und Familie beraten. Die SPD-Abgeordneten sprechen sich darin auch dafür aus, Gesundheitsfachkräfte an den Schulen zu beschäftigen, die Schüler und deren Eltern niederschwellig in Fragen der psychosozialen Gesundheit beraten. In der Sachverständigenanhörung erklärte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in einer schriftlichen Stellungnahme, der Verband unterstütze „ausdrücklich jede Form von Maßnahmen zur gezielten Förderung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“. Insbesondere Kinder mit Therapie- oder Förderbedarf hätten in der Hochzeit der Pandemie lange auf Angebote wie Frühförderung verzichten müssen. Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie seien nicht oder nicht mit der üblichen Frequenz angeboten worden. Weil in den Gesundheitsämtern die Kapazitäten für Routineaufgaben fehlten, seien Schuluntersuchungen zur Feststellung von Defiziten oder Förderbedarf in zwei Jahrgängen nur zum Teil oder gar nicht durchgeführt worden. „Alle diese verpassten Dinge wirken sich bei Kindern auch jetzt häufig noch auf den Entwicklungsstand aus und erfordern aus ärztlicher Sicht häufig eine Intensivierung von Förder- und Therapiemaßnahmen“, heißt es in der Stellungnahme.

In eine ähnliche Richtung zielt die jüngste Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie, die der Rat am 28. November vorgelegt hat. Neben dem Ausbau niedrigschwelliger und flächendeckender schulpsychologischer und psychosozialer Unterstützungsangebote forderte er darin auch, „die Forschung über die Folgen von Maßnahmen zur Bewältigung gesellschaftlicher Krisen (nicht nur von Pandemien)“ zu fördern. Es müsse sichergestellt werden, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in künftigen Krisen mit allen Kräften geschützt würden, so der Ethikrat. Während der COVID-19-Pandemie sei nicht hinreichend gewürdigt worden, welchen psychischen Belastungen diese durch die Pandemie selbst und die zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen ausgesetzt waren.