Laut einer aktuellen Datenerhebung der KKH Kaufmännische Krankenkasse wurde 2022 bei jedem neunten Bürger in Deutschland Adipositas diagnostiziert. Bei Frauen trifft dies sogar auf jede achte zu. Insgesamt hat sich die Zahl Betroffener von 2012 auf 2022 um 30 Prozent erhöht. Ohne Zweifel besteht hier Handlungsbedarf.
Denn je höher das Körpergewicht, desto höher ist das Risiko für gravierende Folgekrankheiten, allen voran für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Brust-, Darm- und andere Krebsarten, Diabetes Typ 2 sowie chronische Atemwegserkrankungen, aber auch für psychische Leiden. Trotz guter Zugänglichkeit des Gesundheitssystems schneidet Deutschland im internationalen Vergleich bei der Vermeidung nichtübertragbarer Krankheiten eher schwach ab. Diese Analyse mag Karl Lauterbach zu dem Impulspapier „Früherkennung und Versorgung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen“ motiviert haben, das das Bundesministerium für Gesundheit am 5. Oktober vorgelegt hat.
Und ja, wir teilen die Einschätzung, dass wir in Deutschland unsere Potenziale hier längst nicht ausreichend ausschöpfen und dass es helfen kann, wie in dem Impulspapier angedacht, ein Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin (BIPAM) mit dem Auftrag einzurichten, nicht übertragbare Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs präventiv besser in den Griff zu bekommen. Dabei sollten Verhaltens- und Verhältnisprävention von Beginn an zusammengedacht werden. Sicher ist es auch vernünftig, auf Basis wissenschaftlicher Evidenz die bestehenden Früherkennungsuntersuchungen (Kinder- und Jugenduntersuchungen, Check-up 35 etc.) sowie die ärztliche Präventionsempfehlung zu überarbeiten und Kurzinterventionen in der hausärztlichen Praxis zum Beispiel zur Nikotinentwöhnung zu fördern.
Ob uns aber Maßnahmen wie die Vorfeld-Untersuchungen zu den Check-ups in Apotheken, die Zusatz-Check-ups bei Kindern und Jugendlichen, bei 25-, 35- und 50-Jährigen sowie die Aufbereitung von Gesundheitsinformationen via Internet bei der Bekämpfung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wesentlich nach vorne bringen, muss anhand aktueller Studienlage in Zweifel gezogen werden. Die kardiovaskuläre Mortalität ist vor allem bei älteren Personen und in vulnerablen Bevölkerungsgruppen erhöht, die vorgeschlagenen Maßnahmen zielen allerdings überwiegend auf Kinder und Jugendliche sowie junge Erwachsene mit eher seltener bzw. geringer Risikoerhöhung. Das mag auf lange Sicht helfen, den dringendsten Bedarf deckt es nicht.
Meiner Ansicht nach muss für Präventionsmaßnahmen wie auch für jede andere gesundheitsbezogene Intervention gelten, dass aussagekräftige Belege zum Nutzen vorliegen müssen, um diese flächendeckend einzuführen und von der Solidargemeinschaft finanzieren zu lassen. Mit Vouchersystemen, die junge Menschen in die Apotheke führen sollen, werden wir die Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen gerade für vulnerable Zielgruppen nicht signifikant erhöhen, dafür aber unnötige Doppelkosten erzeugen.
Wir wissen heute sehr viel über den sozialen Gradienten von Gesundheitschancen, über die Wirkungen lückenhafter Bildung, schlechter Laufbahnchancen oder prekärer Einkommen auf die Inzidenz von Adipositas und adipositas-assoziierten Erkrankungen und damit einhergehende Mängel in der Gesundheitskompetenz. Neben einem guten Zugang zur primärpräventiven Versorgung braucht es daher verhältnispräventive Maßnahmen wie zum Beispiel die Stärkung der Gesundheitskompetenz von Kindern- und Jugendlichen in Schulen, ausgewogene und nachhaltige Ernährungsangebote in öffentlichen Bildungs-, Kranken- und Pflegeeinrichtungen sowie ausreichende Bewegungs- und Sportangebote für alle. Auch zur Förderung und Umsetzung solcher Maßnahmen sollte das BIPAM einen Auftrag erhalten.
Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein