Immer wieder kommt es in der Patientenversorgung zu kritischen Ereignissen oder (Beinahe-)Fehlern. Seit 2012 können Ärztinnen und Ärzte und andere medizinische Berufe über CIRS-NRW, die anonyme Berichts- und Lernplattform, über solche kritischen Ereignisse berichten und Vorschläge zur Fehlervermeidung anbieten. Ende November beging die Plattform in Münster ihr zehnjähriges Bestehen.
von Jocelyne Naujoks
Willkommen im Room of Horrors“, steht an der Tür. Wer einen ersten Blick in den Raum wagt, der erkennt sofort, dass es sich hierbei um ein Patientenzimmer handeln soll. In einer Ecke steht ein Krankenbett, in dem eine weibliche Puppe liegt. Sie wird augenscheinlich mit Sauerstoff versorgt und bekommt intravenös Medikamente. Auf einem Beobachtungsbogen erfährt man, dass es sich hier um das Zimmer der 74-jährigen Eva Schock handeln soll, die mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Neben Haupt- und Nebendiagnosen sind hier auch Allergien und Angaben zu ihrem Akutzustand sowie ein Medikamentenplan erfasst. In der Patientenakte, die sich ebenfalls im Raum befindet, sind weitere Details zu Frau Schocks Gesundheitszustand enthalten. Auf einem Nachtisch neben dem Bett liegt eine Medikamentenbox. Ein Joghurt wartet darauf, gegessen zu werden. Hinter dem Bett lehnt eine Krücke an der Wand.
Dem aufmerksamen Beobachter entgeht nicht, dass in diesem Patientenzimmer einiges nicht so ist, wie es sein sollte. So liegt die Sauerstoffflasche auf dem Bett, sowohl die Krücke als auch die Notrufklingel sind außer Reichweite der Patientin und in der Hand hält Frau Schock eine Packung Zigaretten. Kein Szenario, das so oder so ähnlich nicht schon vorgekommen wäre, erklärt Marcel Debray, Qualitäts- und Risikomanager bei der Hospitalvereinigung St. Marien in Köln auf dem diesjährigen CIRSNRW Gipfel in Münster Anfang November. Dubrey hat gemeinsam mit seinen Kolleginnen den Raum für diesen Tag präpariert und bewusst insgesamt zehn Fehlerquellen eingebaut. Eine einfache und effektive Methode, um im Krankenhaus niederschwellig und mit simpler technischer Ausstattung Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal für Fehler im Krankenhausalltag zu sensibilisieren und so die Patientensicherheit zu erhöhen, sagt Debray.
CIRS-NRW feiert zehnjähriges Jubiläum
Kritische Ereignisse in der Patientenversorgung offen anzusprechen, aus ihnen zu lernen und so die Patientensicherheit zu erhöhen, ist auch Ziel von CIRS-NRW, dem einrichtungsübergreifenden Lern- und Berichtssystem zur Meldung von kritischen Ereignissen in der Patientenversorgung, das auf dem CIRS-NRW Gipfel sein zehnjähriges Jubiläum feierte. „Fehler passieren, sollten sich aber nicht wiederholen“, sagt Mark G. Friedrich, kaufmännischer Geschäftsführer der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Wie wichtig ein konstruktives Miteinander der Heilberufe ist, um Fehler zu verhindern, betont Dr. Hannes Müller, Vorstandsmitglied der Apothekerkammer Westfalen-Lippe. Seit 2019 sind die Apotheker-und Ärztekammern, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalens ebenso wie das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) Teil des CIRSNRW-Teams.
Obwohl Gefahrenquellen für die Patientensicherheit grundsätzlich bekannt seien, blieben sie im Alltag oft unentdeckt oder würden zumindest nicht korrigiert, sagt Risikomanager Debray beim CIRSNRW-Gipfel. Die Gründe dafür seien zahlreich. Ursache sei häufig eine mangelhafte Fehlerkultur im Haus. Um Gefahren zu minimieren, braucht es laut Debray ein hohes Situationsbewusstsein und das Wissen um potenzielle Fehlerquellen. Das verlange eine genaue Wahrnehmung der Situation und vorrausschauendes Handeln. Ziel des sogenannten Room of Horrors sei daher, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen realistischen Einblick zu geben und die Gefährdungen im klinischen Alltag erlebbar zu machen. „Außerdem macht es extrem Spaß“, sagt Dubrey, zumindest wenn es die Fehlerkultur des Krankenhauses erlaube.
Berufsgruppenübergreifende Teams bilden
Teilnehmen an dem Simulationstraining können nicht nur Ärztinnen und Ärzte. Auch Pflegepersonal ebenso wie Verwaltungsangestellte oder auch Reinigungspersonal können den „Room of Horrors“ besuchen. Dubrey rät, im Vornherein berufsgruppenübergreifende Teams zu bilden, die dann innerhalb eines kleinen Zeitfensters von fünf bis zehn Minuten im „Room of Horrors“ alle Fehler notieren, die ihnen auffallen. Es mache Sinn, feste Teams aus verschiedenen Berufsgruppen zu bilden, sagt Dubrey. Die Erfahrung zeige, dass sonst einzelne Berufsgruppen nicht teilnehmen. Zudem senke die Übung auch bei Beteiligten anderer Berufsgruppen die Hemmschwelle, Fehler zu melden. Die Patientenrisiken müssten in kurzer Zeit erkannt werden, da auch im Arbeitsalltag wenig Zeit bleibe.
Der „Room of Horrors“ könne auch virtuell über eine Power Point Präsentation realisiert werden. Dubrey zufolge ist dies aber eher eine Notlösung. Die Szene im „Room of Horrors“ knüpfe an das vorhandene Wissen an, gebe aber Hinweise, welche Risiken noch einmal verstärkt thematisiert werden müssten, sagt Dubrey. Vorteil sei, dass die Schulung nur wenig Zeit und (fast) kein Budget brauche und so gut wie überall realisiert werden könne – ob in einem Patientenzimmer, auf dem Flur oder in jedem anderen Raum. Wie unterschiedlich die verschiedenen Beobachter auf Fehlersuche gehen, habe sich auch an diesem Tag wieder gezeigt, sagt Dubrey. Manche schauten sich zuerst den Patienten an, andere seine Akte. Während sich einige direkt im Team zusammenschlössen, erkundeten andere den Raum alleine. Fast immer fänden die Teams dabei mehr potenzielle Fehlerquellen, als bewusst eingebaut wurden.
Nach dem Unerwarteten fragen
„Ziel unserer Arbeit ist es immer, den Zeitpunkt des Lernens möglichst weit nach vorne zu schieben“, sagt Dr. Annette Gebauer, Geschäftsführerin von Interventions for Corporate Learning (ICL) und Organisationsberaterin. Anstatt aus kritischen (Beinahe-)Ereignissen zu lernen, also „wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, plädiert Gebauer dafür, mehr über die eigenen Bewältigungsmuster im Umgang mit Unerwartetem zu lernen. „Ich spreche eine Einladung aus, über Ungewöhnliches im Alltag zu sprechen“, erläutert Gebauer ihr Vorgehen, „Und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem noch gar nichts schiefgelaufen ist.“ Mögliche Fragen seien zum Beispiel: Was ist heute anders? Was ist komisch? Was hält uns heute davon ab, sicher zu arbeiten? Und nach getaner Arbeit: Was war unser Plan? Wann ist etwas Unerwartetes passiert und wie sind wir damit umgegangen? Möchten wir mit ähnlichen Ereignissen in der Zukunft wieder so umgehen oder nicht – auch wenn sie vielleicht zum Erfolg geführt haben?
Aus verschiedenen Perspektiven auf die Situation schauen
Wie eine Organisation mit Unerwartetem umgeht, hängt Gebauer zufolge von zwei Faktoren ab. Zum einen brauche es eine sogenannte „organisationale Resilienz“, also die Fähigkeit, sich gemeinsam schnell auf neue Situationen einstellen zu können. Das zweite Stichwort laute „kollektive Achtsamkeit“. Ziel hierbei ist es Gebauer zufolge, gemeinsam eine hohe Aufmerksamkeit für Unterwartetes, Besonderheiten und Abweichungen zu erzeugen und sich gemeinsam ein gutes Bild von der Situation zu machen. „Bei kollektiver Achtsamkeit kommt es extrem darauf an, wie im Team Sinn erzeugt wird. Wir suchen nach kleinsten Abweichungen und machen im Team mit unterschiedlichen Perspektiven daraus Sinn.“ Dabei sei wichtig, die Teaminteraktion zu steuern. „Nicht der, der am lautesten spricht, setzt sich durch“, betont Gebauer und schlägt vor, drei Schritte voneinander zu trennen, die häufig verdichtet werden: beschreiben, erklären und bewerten. Auf der Suche nach einer Erklärung gehe es darum, eine Hypothesenvielfalt zu erzeugen und sich nicht auf eine Hypothese zu versteifen.
Laut Gebauer hängt es häufig von einzelnen Personen ab, wie die Sicherheitskultur in einer Organisation gelebt wird. Führungsteams brauchten ein gemeinsames Verständnis darüber, wie sie mit kritischen Situationen umgehen. Zudem müssen der Expertin zufolge Führungspersonen ein komplett anderes Rollenverständnis entwickeln. Aufgabe der Führungsteams müsse sein, die Wahrnehmungsfähigkeit der Kolleginnen und Kollegen zu aktivieren und dafür die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen. Es brauche eine respektvolle und vertrauensvolle Atmosphäre ohne vorschnelle Schuldzuweisungen, so Gebauer.
Das eigene System hinterfragen
Sinnvoll sei, die eigenen Muster im Umgang mit kritischen Ereignissen zu beobachten, also Fragen zu stellen: Wie setzen wir CIRS im Alltag um, wer meldet und wie wird gemeldet? Müssen die Kolleginnen und Kollegen erst motiviert werden oder melden sie selbstständig? Gibt es vielleicht sogar nicht anonymisierte Diskussionen im Team? Gebauer selbst hat schon in vielen Krankenhäusern erlebt, dass Fehler zwar dokumentiert werden, für die Bearbeitung aber nur die Experten zuständig sind. Die Folge sei meist „Masse statt Klasse“, bemerkt Gebauer. Experten hätten gerade bei anonymisierten Prozessen nur wenig Zugang zu den Details, also zu den Kolleginnen und Kollegen, die die Situation tatsächlich erlebt haben. Dabei seien diese sogenannten Experten der Situation die wichtigsten Informationsgeber. In manchen Fällen erführen die Betroffenen zudem nicht einmal,welche Maßnahmen in Reaktion auf ein kritisches Ereignis entwickelt würden.
Ziel sei daher, ein Umdenken in den Organisationen zu erreichen, sagt Gebauer. Das bedeute, kritische Ereignisse nicht unter den Teppich zu kehren, nicht erst nach schwerwiegenden Ereignissen zu reagieren oder sich hinter Regeln und Systemen zu verschanzen, sondern das Unerwartete zu suchen und sich darüber auszutauschen. Auf dieser Ebene könne es vielleicht auch möglich sein, kritische Ereignisse nicht anonym zu melden und sie stattdessen gemeinsam im Team aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, so Gebauer.